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Gerhard Kienle

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Gerhard Kienle (* 22. November 1923 in Madrid; † 2. Juni 1983 in Herdecke) war ein deutscher anthroposophischer Arzt, Neurologe, Gesundheitspolitiker und Wissenschaftstheoretiker. Er war Hauptbegründer des Gemeinschaftskrankenhauses Herdecke und der Universität Witten/Herdecke. In seiner Rolle als wissenschaftlicher Gutachter des Arzneimittelausschusses des Bundestages war er maßgeblich verantwortlich für die methodenpluralistische Fassung des Arzneimittelgesetzes von 1976. Nach ihm benannt ist der Gerhard Kienle Lehrstuhl für Medizintheorie, Integrative und Anthroposophische Medizin an der Universität Witten/Herdecke.

Leben

Der Sohn einer Diplomatenfamilie wuchs in Madrid auf. Mit 16 Jahren entdeckte er im faschistischen Berlin (1939) durch den Priester Otto Palmer Rudolf Steiners Philosophie der Frei­heit und damit die Anthroposophie.[1] Auf Anraten des regimekritischen Vaters und von Otto Palmer hatte Kienle sich dann bei der militärärztlichen Akademie der Luftwaffe für das Medizinstudium angemeldet, weil beide Ratgeber der Meinung waren, die Macht der Nationalsozialisten könne nur durch die eigene Elitetruppe gebrochen ­werden.[1] Von 1945 bis 1948 studierte er an der Universität Tübingen Medizin und promovierte dort. Er gründete dort eine anthroposophische Studentengruppe[2] und ein anthroposophisches Studentenwerk und -wohnheim, das Fichte-Haus[3]. 1953 wurde er Assistent an der Nervenklinik der Universität Tübingen. In den Jahren 1963 bis 1968 war er neurologischer Oberarzt unter Duus am Krankenhaus Nordwest in Frankfurt am Main. In dieser Zeit verfasste er an der Frankfurter Goethe-Universität[4] eine freie Habilitation über den nicht-euklidischen Sehraum des Menschen[5][6], deren Fragestellung nach Bernardo J. Gut von Rudolf Steiners Empfehlung inspiriert wurde, die nicht-euklidische Geometrie auf biologische Probleme anzuwenden.[7] 1968 war er an der Grundsteinlegung des Gemeinschaftskrankenhauses Herdecke beteiligt, das 1969 eingeweiht wurde. Ihm war die Krankenpflege als persönliche Hinwendung zum Menschen ein Anliegen, was zur Gründung einer Krankenpflegeschule am Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke, dem heutigen Dörthe-Krause-Institut, führte.[8]

Alle Arbeit im Krankenhaus dient der Hilfestellung für den kranken und leidenden Menschen. Die Gestaltung dieser Arbeit hängt davon ab, wie tief man in das Verständnis von Krankheit und Gesundheit einzudringen vermag. Wird Krankheit als eine Beeinträchtigung des erkrankten Menschen verstanden und die Heilungstendenz als das Ringen der Individualität um Selbstverwirklichung, so ergibt sich daraus der Leitsatz des medizinischen und pflegerischen Handelns: Unterstütze den kranken Menschen darin, seine individuellen Möglichkeiten zu verwirklichen und in der Auseinandersetzung mit seinem kranken Leib, seinem Schicksal und der Umwelt neue Verwirklichungsformen zu veranlagen. (Gerhard Kienle: Präambel des Gemeinschaftskrankenhauses Herdecke, 1975)[9]

In den 1970er Jahren setzte er sich für die gesetzliche Verankerung und wirtschaftliche Erstattungsfähigkeit der homöopathischen, naturheilkundlichen und anthroposophischen Medizin im deutschen Gesundheitswesen ein. Er stellte den Absolutheitsanspruch der kontrollierten randomisierten Studie als Wirksamkeitsnachweis in Frage und setzte einen Fokus auf die individuelle Erkenntnis des behandelnden Arztes.[3] In seiner Rolle als wissenschaftlicher Gutachter des Arzneimittelausschusses des Bundestages war er maßgeblich verantwortlich für die methodenpluralistische Fassung des Arzneimittelgesetzes von 1976.

1982 war er maßgeblicher Mitbegründer der Universität Witten/Herdecke, der ersten privaten Universität der Bundesrepublik Deutschland. Deren Gründung gingen verschiedene Vernetzungsbestrebungen mit internationalen Wissenschafttlern zuvor. Am 24. September 1973[10] fand aus einer Verbindung Gerhard Kienles mit Karl-Ernst Schäfer ein Symposium mit dem Titel "Menschengemäße Physiologische Wissenschaft und Medizin" ("Man-centered Physiological Science and Medicine")[10] statt.[11] Die Vorträge wurden publiziert in den Bänden "Toward a man-centered science"[12] (1977), "Basis of an Individual Physiology"[13] (1979) und "Individuation Process and Biographical Aspects of Disease"[14] (1979).

Es schloß sich die Gründung einer „Stiftung Freie Europäische Akademie der Wissenschaften (FEAW)“ im Sommer 1976 an, die über 60 internationale Hochschullehrer mit anthroposophisch-anthropologischen Anliegen zusammenbrachte.[15] Darunter sowohl anthroposophisch motivierte Hochschullehrer wie Herbert Hensel, Gunther Hildebrandt, Wolfgang Blankenburg und Bernard Lievegoed als auch internationale Wissenschaftler wie der Computerspezialist Joseph Weizenbaum oder der Physiologe Paul Weiss. Im Einladungsschreiben der FEAW formulierte Diether Lauenstein:

Sie [die FEAW] führt Gelehrte zusammen, welche die gemeinsame gedankliche Grundlage ihrer Wissenschaften suchen, dem bloßen Positivismus entgegenarbeiten und ihre Fachgebiete nicht nur nachträglich interdisziplinär verbinden.
Zwar sehen die Einladenden die Anthroposophie Rudolf Steiners als eine fruchtbare Weltdeutung an, möchten sich in der Akademie aber mit allen solchen Gelehrten verbinden, welche die Wahrheitsfrage in ihrer Wissenschaft philosophisch stellen.[16]

Die FEAW veranstaltete von 1976 bis Ende 1996 elf Tagungen und Symposien.[17]

In seinen Büchern kritisierte Gerhard Kienle etwa den vorherrschenden Glauben in die Übertragbarkeit von Ergebnissen aus Tierversuchen mit Medikamenten auf den Menschen, indem er prinzipielle Unterschiede zwischen Mensch und Tier aufzeigte und unzulässige Argumentationen zugunsten von Tierversuchen aufzudecken suchte, wiewohl er nicht prinzipiell gegen diese Versuche war.

Werke

  • Die Chorea Huntington-Fälle von 1900 bis Februar 1947 aus der Universitätsklinik für Nerven- und Gemütskrankheiten der Eberhard-Karl-Universität Tübingen. Diss. 1948
  • Notfalltherapie neurologischer und psychiatrischer Erkrankungen. Thieme, Stuttgart 1964; 3. erw. A. 1978
  • Gerhard Kienle: Die optischen Wahrnehmungsstörungen und die nichteuklidische Struktur des Sehraumes. Thieme, 1968 (google.de).[5]
  • Arzneimittelsicherheit und Gesellschaft. Eine kritische Untersuchung. Schattauer, Stuttgart/New York 1974
  • Die Zulassung von Arzneimitteln und der Widerruf von Zulassungen nach dem Arzneimittelgesetz von 1976 (mit Rainer Burkhardt). Urachhaus, Stuttgart 1982
  • Der Wirksamkeitsnachweis für Arzneimittel. Analyse einer Illusion (mit Rainer Burkhardt). Urachhaus, Stuttgart 1983
  • Die ungeschriebene Philosophie Jesu. Urachhaus, Stuttgart 1983
  • Christentum und Medizin. Vier Vorträge. Urachhaus, Stuttgart 1986
  • Wissenschaft und Anthroposophie. Impulse für neue Wege der Forschung (Mitverfasser). Urachhaus, Stuttgart 1989

Literatur

  • Philip Kovce: Ich-Bildung. Der Mensch als Schöpfer seiner selbst. Motive einer ungeschriebenen Philosophie Gerhard Kienles. Verlag des Ita Wegman Instituts, Arlesheim 2017, ISBN 978-3-906947-04-4.
  • Peter Selg: Gerhard Kienle – Leben und Werk (Band 1: Eine Biographie; Band 2: Ausgewählte Aufsätze und Vorträge). Verlag am Goetheanum, Dornach 2003, ISBN 3-7235-1165-1.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. 1,0 1,1 Peter Selg: Zum 100. Geburtstag von Gerhard Kienle (1923–1983) | Die Christengemeinschaft. In: Die Christengemeinschaft. November 2023, abgerufen am 19. November 2023.
  2. Peter Matthiessen: Der Hochschulgedanke Rudolf Steiners und die Universität Witten/Herdecke. In: Heusser, Weinzirl (Hrsg.): Rudolf Steiner - Seine Bedeutung für Wissenschaft und Leben heute. Schattauer, 2014, ISBN  978-3-7945-2947-6, S. 271.
  3. 3,0 3,1 Axel Föller-Mancini: Erwachen an den Problemen der anderen. Interview mit Rainer Burkhardt. In: info3. März 2004 (archive.org).
  4. Peter Selg: Medizin - Gerhard Kienle. 16. November 2023 (dasgoetheanum.com [abgerufen am 20. November 2023]).
  5. 5,0 5,1 Gerhard Kienle: Die optischen Wahrnehmungsstörungen und die nichteuklidische Struktur des Sehraumes. Thieme, 1968 (google.de).
  6. JUDICIA DE NOVIS LIBRIS. In: Acta Ophthalmologica. Band 47, Nr. 1, Februar 1969, S. 279–283, doi:10.1111/j.1755-3768.1969.tb05632.x.
  7. Bernardo J. Gut: Rezension - Kienle, Gerhard: Die optischen Wahrnehmungsstörungen und die nicht euklidische Struktur des Sehraumes. In: Elemente der Naturwissenschaft. Nr. 10, 1969, S. 50, doi:10.18756/edn.10.50 (elementedernaturwissenschaft.org [abgerufen am 31. Januar 2022]): „Für die Leser unserer Zeitschrift ist noch bemerkenswert, dass Kienle einer Empfehlung R. Steiners gefolgt ist, die nicht-euklidische Geometrie auf biologische Probleme anzuwenden.“
  8. Peter Selg: Vorwort. In: Peter Selg (Hrsg.): Die Würde des Menschen und die Humanisierung der Medizin - Aufsätze und Vorträge von Gerhard Kienle. Verlag des Ita Wegman Instituts, Arlesheim 2009, ISBN  978-3-905919-11-0, S. 9 f.
  9. Gerhard Kienle: Präambel des Gemeinschaftskrankenhauses Herdecke. In: Peter Selg (Hrsg.): Die Würde des Menschen und die Humanisierung der Medizin - Aufsätze und Vorträge von Gerhard Kienle. Verlag des Ita Wegman Instituts, Arlesheim 2009, ISBN  978-3-905919-11-0, S. 5.
  10. 10,0 10,1 Peter Selg: Gerhard Kienle. S. 506. zitiert nach Michel Gastkemper: Opkomst en ondergang. In: Antroposofie in de pers. 16. Juli 2008, abgerufen am 30. Juli 2021 (nederlands).
  11. Konrad Schily: Die Standardisierung ist genau das Mittel, um die Komplexität nicht mehr begreifbar zu machen. In: Institut für Soziale Dreigliederung. 1. August 2010, abgerufen am 30. Juli 2021.
  12. Karl-Ernst Schäfer, Herbert Hensel, Ronald Brady (Hrsg.): Toward a man-centered medical science (= New Image of Man and Medicine. Band 1). Futura Pub. Co., New York 1977, ISBN  978-0-87993-069-1.
  13. Karl-Ernst Schäfer, Gunther Hildebrandt, Norman Macbeth (Hrsg.): Basis of an Individual Physiology (= New Image of Man and Medicine. Band 2). Futura Publ. Co., Mount Kisco New York 1979, ISBN  978-0-87993-106-3 (english).
  14. Karl-Ernst Schäfer, Uwe Stave, Wolfgang Blankenburg (Hrsg.): Individuation Process and Biographical Aspects of Disease (= New Image of Man and Medicine. Band 3). Futura Publ. Co., Mount Kisco New York 1979, ISBN  978-0-87993-117-9 (english).
  15. Gerhard Kienle. In: Forschungsstelle Kulturimpuls - Biographien Dokumentation. Abgerufen am 11. Juni 2015.
  16. Diether Lauenstein: Einladungsschreiben FEAW. Herdecke 22. Mai 1976 (zitiert nach Peter Selg, Gerhard Kienle. Leben und Werk. Band I: Eine Biographie).
  17. Antroposofie in de pers: Opkomst en ondergang. In: antroposofieindepers.blogspot.de. Abgerufen am 11. Juni 2015.
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