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'''Perspektivismus''' und  '''Perspektivität''' bezeichnen [[Philosophie|philosophische]] Lehren, die besagen, dass die [[Wirklichkeit]] von Standpunkt und Eigenschaften des betrachtenden [[Individuum]]s abhängig ist. Das menschliche [[Denken]], [[Erkennung|Erkennen]] und [[Handeln]] ist endlich, da es vielfältigen Einschränkungen unterliegt, die aus den Bedingungen von [[Zeit]] und [[Raum (Philosophie)|Raum]], individuellen Veranlagungen, Umgebung und Situation resultieren; beispielsweise kultureller oder gesellschaftlicher Natur sind (siehe [[Erkenntnistheorie]]). Im engeren Sinn meint [[Perspektive]] den räumlichen „Durchblick“ und [[Projektive Perspektivität]].
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'''Perspektivismus''' und  '''Perspektivität''' bezeichnen [[Wikipedia:Philosophie|philosophische]] Lehren, die besagen, dass die [[Wikipedia:Wirklichkeit|Wirklichkeit]] von Standpunkt und Eigenschaften des betrachtenden [[Wikipedia:Individuum|Individuum]]s abhängig ist. Das menschliche [[Denken]], [[Wikipedia:Erkennung|Erkennen]] und [[Wikipedia:Handeln|Handeln]] ist endlich, da es vielfältigen Einschränkungen unterliegt, die aus den Bedingungen von [[Wikipedia:Zeit|Zeit]] und [[Wikipedia:Raum (Philosophie)|Raum]], individuellen Veranlagungen, Umgebung und Situation resultieren; beispielsweise kultureller oder gesellschaftlicher Natur sind (siehe [[Erkenntnistheorie]]). Im engeren Sinn meint [[Wikipedia:Perspektive|Perspektive]] den räumlichen „Durchblick“ und [[Wikipedia:Projektive Perspektivität|Projektive Perspektivität]].
    
== Philosophie ==
 
== Philosophie ==
Den Begriff der Perspektive und den zugehörigen Begriff des [[Standpunkt-Theorie|Standpunktes]] führte [[Gottfried Wilhelm Leibniz]] in die Philosophie ein.<ref>König: ''Perspektive, Perspektivismus, perspektivisch''. 1989, S. 362–375.</ref> In seiner [[Theodizee]] und in seiner [[Monadologie]] ist Perspektivität eine Grundeigenschaft der einzelnen [[Monade (Philosophie)|Monaden]], der elementarsten Einheiten der (geistigen) Welt, mit ihren notwendig verschiedenen Standpunkten in der vorgegebenen Welt.
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Den Begriff der Perspektive und den zugehörigen Begriff des [[Wikipedia:Standpunkt-Theorie|Standpunktes]] führte [[Wikipedia:Gottfried Wilhelm Leibniz|Gottfried Wilhelm Leibniz]] in die Philosophie ein.<ref>König: ''Perspektive, Perspektivismus, perspektivisch''. 1989, S. 362–375.</ref> In seiner [[Wikipedia:Theodizee|Theodizee]] und in seiner [[Wikipedia:Monadologie|Monadologie]] ist Perspektivität eine Grundeigenschaft der einzelnen [[Wikipedia:Monade (Philosophie)|Monaden]], der elementarsten Einheiten der (geistigen) Welt, mit ihren notwendig verschiedenen Standpunkten in der vorgegebenen Welt.
    
{{Zitat| Et comme une même ville regardée de differens côtés paroist toute autre et est comme multipliée perspectivement, il arrive de même, que par la multitude infinie des substances simples, il y a comme autant de differens univers, qui ne sont pourtant que les perspectives d'un seul selon les differens points de veue de chaque Monade.|ref=<ref>Zitiert nach König: ''Perspektive, Perspektivismus, perspektivisch''. 1989, S. 362.</ref>}}
 
{{Zitat| Et comme une même ville regardée de differens côtés paroist toute autre et est comme multipliée perspectivement, il arrive de même, que par la multitude infinie des substances simples, il y a comme autant de differens univers, qui ne sont pourtant que les perspectives d'un seul selon les differens points de veue de chaque Monade.|ref=<ref>Zitiert nach König: ''Perspektive, Perspektivismus, perspektivisch''. 1989, S. 362.</ref>}}
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{{ Zitat| Und wie eine und dieselbe Stadt, von verschiedenen Seiten betrachtet, jeweils ganz anders erscheint, wie sie gleichsam perspektivisch vervielfältigt ist, so kommt es entsprechend durch die unendliche Menge der einfachen Substanzen, dass es gleichsam ebenso viele Universa gibt, die jedoch nur die Perspektiven eines einzigen Universums unter den verschiedenen Gesichtspunkten jeder Monade sind.|ref=<ref>Leibniz: ''Die Hauptwerke. Monadologie.'' 1967, S. 143.</ref>}}
 
{{ Zitat| Und wie eine und dieselbe Stadt, von verschiedenen Seiten betrachtet, jeweils ganz anders erscheint, wie sie gleichsam perspektivisch vervielfältigt ist, so kommt es entsprechend durch die unendliche Menge der einfachen Substanzen, dass es gleichsam ebenso viele Universa gibt, die jedoch nur die Perspektiven eines einzigen Universums unter den verschiedenen Gesichtspunkten jeder Monade sind.|ref=<ref>Leibniz: ''Die Hauptwerke. Monadologie.'' 1967, S. 143.</ref>}}
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Dieser perspektivischen Sichtweise des Menschen gegenüber steht die ''angenommene'' göttliche Zeitlosigkeit und Allgegenwärtigkeit, die aus dieser Totalperspektive heraus zu absolutem [[Bewusstsein]] verhilft. Ein Beispiel des perspektivischen Denkens in Leibniz’ Philosophie ist der [[Psychophysischer Parallelismus|psychophysische Parallelismus]], der eine fundamentale Doppelperspektive postuliert ([[Leib-Seele-Problem]]). [[Wilhelm Wundt]] charakterisierte in seiner Gedenkrede anlässlich Leibniz‘ zweihundertsten Todestag dessen Denkstil so, wie es auch für Wundt gelten könnte: „… das Prinzip der Gleichberechtigung einander ergänzender Standpunkte“ spielt in seinem Denken eine bedeutende Rolle, Standpunkte, die „einander ergänzen, zugleich aber auch als Gegensätze erscheinen können, die erst bei einer tieferen Betrachtung der Dinge sich aufheben.“<ref>Wilhelm Wundt: ''Leibniz zu seinem zweihundertjährigen Todestag''. Kröner, Leipzig 1917, S. 117.</ref>
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Dieser perspektivischen Sichtweise des Menschen gegenüber steht die ''angenommene'' göttliche Zeitlosigkeit und Allgegenwärtigkeit, die aus dieser Totalperspektive heraus zu absolutem [[Bewusstsein]] verhilft. Ein Beispiel des perspektivischen Denkens in Leibniz’ Philosophie ist der [[Wikipedia:Psychophysischer Parallelismus|psychophysische Parallelismus]], der eine fundamentale Doppelperspektive postuliert ([[Wikipedia:Leib-Seele-Problem|Leib-Seele-Problem]]). [[Wikipedia:Wilhelm Wundt|Wilhelm Wundt]] charakterisierte in seiner Gedenkrede anlässlich Leibniz‘ zweihundertsten Todestag dessen Denkstil so, wie es auch für Wundt gelten könnte: „… das Prinzip der Gleichberechtigung einander ergänzender Standpunkte“ spielt in seinem Denken eine bedeutende Rolle, Standpunkte, die „einander ergänzen, zugleich aber auch als Gegensätze erscheinen können, die erst bei einer tieferen Betrachtung der Dinge sich aufheben.“<ref>Wilhelm Wundt: ''Leibniz zu seinem zweihundertjährigen Todestag''. Kröner, Leipzig 1917, S. 117.</ref>
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Doch erst durch [[Immanuel Kant]], so meint Gert König, habe der Begriff des Standpunkts eine radikalere Bedeutung erhalten, denn Kant betonte, dass die Philosophie, will sie Wissenschaft sein, den Menschen auf einen seiner menschlichen Denksituation angemessenen Standpunkt verweisen muss.<ref>König: ''Perspektive, Perspektivismus, perspektivisch''. 1989, S. 362.</ref>
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Doch erst durch [[Wikipedia:Immanuel Kant|Immanuel Kant]], so meint Gert König, habe der Begriff des Standpunkts eine radikalere Bedeutung erhalten, denn Kant betonte, dass die Philosophie, will sie Wissenschaft sein, den Menschen auf einen seiner menschlichen Denksituation angemessenen Standpunkt verweisen muss.<ref>König: ''Perspektive, Perspektivismus, perspektivisch''. 1989, S. 362.</ref>
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Einflussreich war der sprachphilosophische Perspektivismus [[Ludwig Wittgenstein]]s. Die [[Sprache]] vollzieht sich nach „Gepflogenheiten“, die wir alle in [[Sprachspiel]]en beherrschen. Sie legen fest, was Wörter bedeuten, sie bestimmen das [[Bezugssystem]]. Die uns in unserer Sprachgemeinschaft vorgegebene Sprache ist relativ zu dem Standpunkt, an dem wir uns befinden, und wir entwerfen je nach Perspektive unterschiedliche Bilder der Wirklichkeit, z.&nbsp;B. der philosophischen Welt oder der perspektivisch anderen, naturwissenschaftlichen oder künstlerischen Welt.<ref>Ludwig Wittgenstein: ''Schriften. Tractatus logico-philosophicus. Tagebücher 1914–1916.''  Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1960, § 7 ff, § 199, §206.</ref>
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Einflussreich war der sprachphilosophische Perspektivismus [[Wikipedia:Ludwig Wittgenstein|Ludwig Wittgenstein]]s. Die [[Wikipedia:Sprache|Sprache]] vollzieht sich nach „Gepflogenheiten“, die wir alle in [[Wikipedia:Sprachspiel|Sprachspiel]]en beherrschen. Sie legen fest, was Wörter bedeuten, sie bestimmen das [[Wikipedia:Bezugssystem|Bezugssystem]]. Die uns in unserer Sprachgemeinschaft vorgegebene Sprache ist relativ zu dem Standpunkt, an dem wir uns befinden, und wir entwerfen je nach Perspektive unterschiedliche Bilder der Wirklichkeit, z.&nbsp;B. der philosophischen Welt oder der perspektivisch anderen, naturwissenschaftlichen oder künstlerischen Welt.<ref>Ludwig Wittgenstein: ''Schriften. Tractatus logico-philosophicus. Tagebücher 1914–1916.''  Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1960, § 7 ff, § 199, §206.</ref>
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König erwähnt die von [[Gustav Teichmüller]] formulierte Position, dass alle philosophischen Systeme unter dem Gesichtspunkt der Perspektive als „projektivische Darstellungen unseres Erkenntnisinhaltes“ aufzufassen sind und zitiert [[Friedrich Nietzsche]]s Aussagen in ''Jenseits von Gut und Böse'' über „das Perspektivische“ als „die Grundbedingung alles Lebens“.<ref>Friedrich Nietzsche: ''Jenseits von Gut und Böse. Zur Genealogie der Moral.'' In: Giorgio Colli, Mazzino Montinari (Hrsg.): Nietzsches Werke: Kritische Gesamtausgabe, Band 6, Teil 2, Walter de Gruyter, Berlin 1968, S. 4 (vgl. KSA 5, 12).</ref> „Es gibt nur ein perspektivisches Sehen, nur ein perspektivisches ‚Erkennen‘; und je mehr Affekte wir über eine Sache zu Worte kommen lassen, je mehr Augen, verschiedene Augen wir uns für dieselbe Sache einzusetzen wissen, um so vollständiger wird unser ‚Begriff‘ dieser Sache, unsere ‚Objektivität‘ sein“.<ref>Nietzsche: ''Jenseits von Gut und Böse. Zur Genealogie der Moral.'' 1968, S. 383 (vgl. KSA 5, 365).</ref> Ausdrücke wie Perspektive, Horizont, Standpunkt, sind charakteristisch für die von [[Edmund Husserl]] und [[Maurice Merleau-Ponty]] entworfene [[Phänomenologie]] der [[Wahrnehmung]]. An [[Alfred North Whitehead]], der die objektive Realität von Perspektiven vertrete, anknüpfend, habe [[George Herbert Mead]] erklärt:
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König erwähnt die von [[Wikipedia:Gustav Teichmüller|Gustav Teichmüller]] formulierte Position, dass alle philosophischen Systeme unter dem Gesichtspunkt der Perspektive als „projektivische Darstellungen unseres Erkenntnisinhaltes“ aufzufassen sind und zitiert [[Wikipedia:Friedrich Nietzsche|Friedrich Nietzsche]]s Aussagen in ''Jenseits von Gut und Böse'' über „das Perspektivische“ als „die Grundbedingung alles Lebens“.<ref>Friedrich Nietzsche: ''Jenseits von Gut und Böse. Zur Genealogie der Moral.'' In: Giorgio Colli, Mazzino Montinari (Hrsg.): Nietzsches Werke: Kritische Gesamtausgabe, Band 6, Teil 2, Walter de Gruyter, Berlin 1968, S. 4 (vgl. KSA 5, 12).</ref> „Es gibt nur ein perspektivisches Sehen, nur ein perspektivisches ‚Erkennen‘; und je mehr Affekte wir über eine Sache zu Worte kommen lassen, je mehr Augen, verschiedene Augen wir uns für dieselbe Sache einzusetzen wissen, um so vollständiger wird unser ‚Begriff‘ dieser Sache, unsere ‚Objektivität‘ sein“.<ref>Nietzsche: ''Jenseits von Gut und Böse. Zur Genealogie der Moral.'' 1968, S. 383 (vgl. KSA 5, 365).</ref> Ausdrücke wie Perspektive, Horizont, Standpunkt, sind charakteristisch für die von [[Wikipedia:Edmund Husserl|Edmund Husserl]] und [[Wikipedia:Maurice Merleau-Ponty|Maurice Merleau-Ponty]] entworfene [[Wikipedia:Phänomenologie|Phänomenologie]] der [[Wahrnehmung]]. An [[Wikipedia:Alfred North Whitehead|Alfred North Whitehead]], der die objektive Realität von Perspektiven vertrete, anknüpfend, habe [[Wikipedia:George Herbert Mead|George Herbert Mead]] erklärt:
    
{{Zitat| Der Begriff der Perspektive als etwas der Natur eigenes ist … ein unerwartetes Geschenk der … Physik an die Philosophie. Perspektiven sind weder Verzerrungen von irgendwelchen vollkommenen Strukturen noch Selektionen des Bewusstseins aus einer Gegenstandsmenge, deren Realität in einer Welt der Dinge an sich (noumenal world) zu suchen ist. Sie sind in ihrer wechselseitigen Bezogenheit aufeinander die Natur, die die Wissenschaft kennt.|ref=<ref>George Herbert Mead: ''Philosophie der Sozialität: Aufsätze zur Erkenntnisanthropologie''. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1969, zitiert nach König: ''Perspektive, Perspektivismus, perspektivisch.'' 1989, S. 370.</ref>}}
 
{{Zitat| Der Begriff der Perspektive als etwas der Natur eigenes ist … ein unerwartetes Geschenk der … Physik an die Philosophie. Perspektiven sind weder Verzerrungen von irgendwelchen vollkommenen Strukturen noch Selektionen des Bewusstseins aus einer Gegenstandsmenge, deren Realität in einer Welt der Dinge an sich (noumenal world) zu suchen ist. Sie sind in ihrer wechselseitigen Bezogenheit aufeinander die Natur, die die Wissenschaft kennt.|ref=<ref>George Herbert Mead: ''Philosophie der Sozialität: Aufsätze zur Erkenntnisanthropologie''. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1969, zitiert nach König: ''Perspektive, Perspektivismus, perspektivisch.'' 1989, S. 370.</ref>}}
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== Psychologie ==
 
== Psychologie ==
[[Gustav Theodor Fechner]] hob die perspektivische Betrachtungsweise hervor:
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[[Wikipedia:Gustav Theodor Fechner|Gustav Theodor Fechner]] hob die perspektivische Betrachtungsweise hervor:
    
{{Zitat| ... wenn Jemand innerhalb eines Kreises steht, so liegt dessen konvexe Seite für ihn ganz verborgen; wenn er außerhalb steht, umgekehrt die konkave Seite unter der konvexen Decke. Beide Seiten gehören ebenso untrennbar zusammen, als die geistige und leibliche Seite des Menschen und diese lassen sich vergleichsweise auch als innere und äußere Seite fassen: es ist aber auch ebenso unmöglich, von einem Standpunkt in der Ebene des Kreises beide Seiten des Kreises zugleich zu erblicken, als von einem Standpunkte im Gebiete der menschlichen Existenz diese beiden Seiten des Menschen. Erst wie wir den Standpunkt wechseln, wechselt sich die Seite des Kreises, die wir erblicken, und die sich hinter der erblickten versteckt. Aber der Kreis ist nur ein Bild und es gilt die Frage nach der Sache.|ref=<ref>Gustav Theodor Fechner: ''Elemente der Psychophysik''. 2 Teile, 2. Auflage. Breitkopf & Härtel, Leipzig 1889, S. 3.</ref>}}
 
{{Zitat| ... wenn Jemand innerhalb eines Kreises steht, so liegt dessen konvexe Seite für ihn ganz verborgen; wenn er außerhalb steht, umgekehrt die konkave Seite unter der konvexen Decke. Beide Seiten gehören ebenso untrennbar zusammen, als die geistige und leibliche Seite des Menschen und diese lassen sich vergleichsweise auch als innere und äußere Seite fassen: es ist aber auch ebenso unmöglich, von einem Standpunkt in der Ebene des Kreises beide Seiten des Kreises zugleich zu erblicken, als von einem Standpunkte im Gebiete der menschlichen Existenz diese beiden Seiten des Menschen. Erst wie wir den Standpunkt wechseln, wechselt sich die Seite des Kreises, die wir erblicken, und die sich hinter der erblickten versteckt. Aber der Kreis ist nur ein Bild und es gilt die Frage nach der Sache.|ref=<ref>Gustav Theodor Fechner: ''Elemente der Psychophysik''. 2 Teile, 2. Auflage. Breitkopf & Härtel, Leipzig 1889, S. 3.</ref>}}
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Als Beispiele psychologischer Forschung zur Perspektivität sind die Bezugssysteme und Gesetzmäßigkeiten der [[Raumwahrnehmung|räumlichen Wahrnehmung]], das [[Stereoskopisches Sehen|beidäugige Tiefensehen]], [[Jean Piaget]]s genetische [[Erkenntnistheorie]] sowie [[Carl Friedrich Graumann]]s (1960) Grundlagen einer Phänomenologie und Psychologie der Perspektivität zu nennen.
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Als Beispiele psychologischer Forschung zur Perspektivität sind die Bezugssysteme und Gesetzmäßigkeiten der [[Wikipedia:Raumwahrnehmung|räumlichen Wahrnehmung]], das [[Wikipedia:Stereoskopisches Sehen|beidäugige Tiefensehen]], [[Wikipedia:Jean Piaget|Jean Piaget]]s genetische [[Erkenntnistheorie]] sowie [[Wikipedia:Carl Friedrich Graumann|Carl Friedrich Graumann]]s (1960) Grundlagen einer Phänomenologie und Psychologie der Perspektivität zu nennen.
    
== Ethnologie ==
 
== Ethnologie ==
In der [[Ethnologie]] wird der Begriff des Perspektivismus vor allem von dem brasilianischen Forscher [[Eduardo Viveiros de Castro]] benutzt, um die Weltsicht der Arawaté ([[Indigene Völker|indigene Gruppe]] im brasilianischen [[Amazonasgebiet]]) zu beschreiben. Nach Viveiros de Castro wird bei den Arawaté den Tieren – genauso wie (aus westlicher Sicht) unbelebten Naturerscheinungen, Pflanzen und Geistwesen – eine mit Subjektivität und Intentionalität ausgestattete spirituelle Qualität zugesprochen, die sie als „Personen“ qualifiziert. Die physische Erscheinungsform dieser nichthumanen Personen gilt als Hülle, die die eigentliche und interne humanoide Form verbirgt – denn urspr. waren etwa Tiere menschlich. Daher vermögen Menschen mit anderen „Personen“ in „soziale“ Beziehungen zu treten: so gelten kultivierte Pflanzen als Blutsverwandte von Frauen, Jagdtiere als Verwandte der Jäger. Die verborgene interne Qualität ist für den Schamanen sichtbar, der mit ihr kommunizieren kann.
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In der [[Wikipedia:Ethnologie|Ethnologie]] wird der Begriff des Perspektivismus vor allem von dem brasilianischen Forscher [[Wikipedia:Eduardo Viveiros de Castro|Eduardo Viveiros de Castro]] benutzt, um die Weltsicht der Arawaté ([[Wikipedia:Indigene Völker|indigene Gruppe]] im brasilianischen [[Wikipedia:Amazonasgebiet|Amazonasgebiet]]) zu beschreiben. Nach Viveiros de Castro wird bei den Arawaté den Tieren – genauso wie (aus westlicher Sicht) unbelebten Naturerscheinungen, Pflanzen und Geistwesen – eine mit Subjektivität und Intentionalität ausgestattete spirituelle Qualität zugesprochen, die sie als „Personen“ qualifiziert. Die physische Erscheinungsform dieser nichthumanen Personen gilt als Hülle, die die eigentliche und interne humanoide Form verbirgt – denn urspr. waren etwa Tiere menschlich. Daher vermögen Menschen mit anderen „Personen“ in „soziale“ Beziehungen zu treten: so gelten kultivierte Pflanzen als Blutsverwandte von Frauen, Jagdtiere als Verwandte der Jäger. Die verborgene interne Qualität ist für den Schamanen sichtbar, der mit ihr kommunizieren kann.
 
Die verschiedenen Personen verfügen über unterschiedliche Sichtweisen auf die Welt (Perspektivismus): unter normalen Umständen sehen sich die Indigenen selbst als Menschen, Tiere als Tiere und Pflanzen als Pflanzen; aber Tiere, Pflanzen und Geister sehen sich selbst ebenfalls als menschlich – sie nehmen ihre eigenen Gewohnheiten als „Kultur“ und ihre Sozialorganisation als „Gesellschaft“ wahr, sie sehen ihre Nahrung als menschliche Nahrung (z.&nbsp;B. begreifen Jaguare Blut als Maniokbier) und ihre körperliche Attribute (z.&nbsp;B. Klauen, Federn, Fell) als Körperschmuck. Aus der Perspektive der Raubtiere und der Geister werden die Menschen als Jagdtiere, aus der Perspektive der Jagdtiere dagegen werden sie als Geister oder Raubtiere gesehen. „Ähnlich wie in der Welt der Arawaté bestehen die Dreh- und Angelpunkte ihres Lebens aus Jagen, Fischen, Kochen und dem Genuss fermentierter Getränke. Auch bei ihnen gehe es um Kreuz-Cousinen und Kriege, um Initiationsrituale, Medizin und ihre Experten, um Chefs und andere Formen sozialer Hierarchien – und um Geister. Und ihre kulturellen Instrumente? Ihre Körperdekorationen, ihr Fell, ihre Federn, Klauen, Schnäbel…“.<ref>Lotte Ri: [https://humansnatures.wordpress.com/2013/03/15/blut-ist-dem-jaguar-sein-bier-die-theorie-des-perspektivismus-von-viveiros-de-castro/ ''„Blut ist dem Jaguar sein Bier“ – Die Theorie des Perspektivismus von Viveiros de Castro.''] In: wordpress.com, 15. März 2013.</ref>
 
Die verschiedenen Personen verfügen über unterschiedliche Sichtweisen auf die Welt (Perspektivismus): unter normalen Umständen sehen sich die Indigenen selbst als Menschen, Tiere als Tiere und Pflanzen als Pflanzen; aber Tiere, Pflanzen und Geister sehen sich selbst ebenfalls als menschlich – sie nehmen ihre eigenen Gewohnheiten als „Kultur“ und ihre Sozialorganisation als „Gesellschaft“ wahr, sie sehen ihre Nahrung als menschliche Nahrung (z.&nbsp;B. begreifen Jaguare Blut als Maniokbier) und ihre körperliche Attribute (z.&nbsp;B. Klauen, Federn, Fell) als Körperschmuck. Aus der Perspektive der Raubtiere und der Geister werden die Menschen als Jagdtiere, aus der Perspektive der Jagdtiere dagegen werden sie als Geister oder Raubtiere gesehen. „Ähnlich wie in der Welt der Arawaté bestehen die Dreh- und Angelpunkte ihres Lebens aus Jagen, Fischen, Kochen und dem Genuss fermentierter Getränke. Auch bei ihnen gehe es um Kreuz-Cousinen und Kriege, um Initiationsrituale, Medizin und ihre Experten, um Chefs und andere Formen sozialer Hierarchien – und um Geister. Und ihre kulturellen Instrumente? Ihre Körperdekorationen, ihr Fell, ihre Federn, Klauen, Schnäbel…“.<ref>Lotte Ri: [https://humansnatures.wordpress.com/2013/03/15/blut-ist-dem-jaguar-sein-bier-die-theorie-des-perspektivismus-von-viveiros-de-castro/ ''„Blut ist dem Jaguar sein Bier“ – Die Theorie des Perspektivismus von Viveiros de Castro.''] In: wordpress.com, 15. März 2013.</ref>
    
== Perspektivismus als Erkenntnishaltung ==
 
== Perspektivismus als Erkenntnishaltung ==
Perspektivismus ist eine erkenntnistheoretische Grundhaltung und eine philosophische Überzeugung, dass eine fundamentale Abhängigkeit der Erkenntnis von dem Standpunkt ([[Bezugssystem]]) und den Eigenschaften des betrachtenden Individuums besteht. Der perspektivistische [[Objektivität|Objektivismus]] setzt eine objektive Wirklichkeit voraus, die aufgrund der unterschiedlichen Standpunkte und Eigenschaften der Betrachter unterschiedlich aufgefasst wird (siehe Leibniz). Der perspektivistische [[Subjektivismus]] geht von einer Vielfalt der Wirklichkeiten aus (siehe Friedrich Nietzsche und [[Hans Vaihinger]]). Ronald Giere (2006) plädiert in seinem Buch ''Scientific perspectivism'' für eine mittlere Position zwischen Objektivismus ([[Realismus]]) und [[Konstruktivismus (Philosophie)|Konstruktivismus]]: „The result will be an account of science that brings observation and theory, perception and conception, closer together than they have seemed in objectivist accounts.“<ref>Giere: ''Scientific perspectivism'', 2006, S. 14.</ref>
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Perspektivismus ist eine erkenntnistheoretische Grundhaltung und eine philosophische Überzeugung, dass eine fundamentale Abhängigkeit der Erkenntnis von dem Standpunkt ([[Wikipedia:Bezugssystem|Bezugssystem]]) und den Eigenschaften des betrachtenden Individuums besteht. Der perspektivistische [[Wikipedia:Objektivität|Objektivismus]] setzt eine objektive Wirklichkeit voraus, die aufgrund der unterschiedlichen Standpunkte und Eigenschaften der Betrachter unterschiedlich aufgefasst wird (siehe Leibniz). Der perspektivistische [[Wikipedia:Subjektivismus|Subjektivismus]] geht von einer Vielfalt der Wirklichkeiten aus (siehe Friedrich Nietzsche und [[Wikipedia:Hans Vaihinger|Hans Vaihinger]]). Ronald Giere (2006) plädiert in seinem Buch ''Scientific perspectivism'' für eine mittlere Position zwischen Objektivismus ([[Wikipedia:Realismus|Realismus]]) und [[Wikipedia:Konstruktivismus (Philosophie)|Konstruktivismus]]: „The result will be an account of science that brings observation and theory, perception and conception, closer together than they have seemed in objectivist accounts.“<ref>Giere: ''Scientific perspectivism'', 2006, S. 14.</ref>
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Der Perspektivismus ist dem [[Pluralismus (Philosophie)|Pluralismus]], [[Relativismus]] und auch dem Konstruktivismus verwandt, kann jedoch eine strengere Fassung erhalten, indem die Kategorien der Bezugssysteme und die individuellen Standpunkte definiert, die wechselseitige Ergänzung der Perspektiven zu einem Gesamtbild verlangt und der zur Erfassung der vollen Wirklichkeit notwendige Perspektiven-Wechsel betont werden.
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Der Perspektivismus ist dem [[Wikipedia:Pluralismus (Philosophie)|Pluralismus]], [[Wikipedia:Relativismus|Relativismus]] und auch dem Konstruktivismus verwandt, kann jedoch eine strengere Fassung erhalten, indem die Kategorien der Bezugssysteme und die individuellen Standpunkte definiert, die wechselseitige Ergänzung der Perspektiven zu einem Gesamtbild verlangt und der zur Erfassung der vollen Wirklichkeit notwendige Perspektiven-Wechsel betont werden.
    
== Siehe auch ==
 
== Siehe auch ==
* [[Erste-Person-Perspektive]]
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* [[Wikipedia:Erste-Person-Perspektive|Erste-Person-Perspektive]]
* [[Komplementaritätsprinzip]]
+
* [[Wikipedia:Komplementaritätsprinzip|Komplementaritätsprinzip]]
* [[Personenwahrnehmung]]
+
* [[Wikipedia:Personenwahrnehmung|Personenwahrnehmung]]
* [[Perspektivenübernahme]]
+
* [[Wikipedia:Perspektivenübernahme|Perspektivenübernahme]]
* [[Standpunkt-Theorie]]
+
* [[Wikipedia:Standpunkt-Theorie|Standpunkt-Theorie]]
 
* [[Wissenschaftstheorie]]
 
* [[Wissenschaftstheorie]]
 
* [https://de.wikipedia.org/wiki/Multispezies-Ethnographie Multispezies-Ethnographie]
 
* [https://de.wikipedia.org/wiki/Multispezies-Ethnographie Multispezies-Ethnographie]
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== Literatur ==
 
== Literatur ==
 
* Viveiros de Castro, Eduardo: ''Die kosmologischen Pronomina und der indianische Perspektivismus.'' In: ''Bulletin de la Société Suisse des Américanistes'' No. 61, 1997, S. 99–114. ([http://www.sag-ssa.ch/bssa/pdf/bssa61_14.pdf online]; PDF; 2,2&nbsp;MB)
 
* Viveiros de Castro, Eduardo: ''Die kosmologischen Pronomina und der indianische Perspektivismus.'' In: ''Bulletin de la Société Suisse des Américanistes'' No. 61, 1997, S. 99–114. ([http://www.sag-ssa.ch/bssa/pdf/bssa61_14.pdf online]; PDF; 2,2&nbsp;MB)
* [[Jochen Fahrenberg]]: ''Zur Kategorienlehre der Psychologie. Komplementaritätsprinzip. Perspektiven und Perspektiven-Wechsel.'' Pabst Science Publishers, Lengerich 2013, ISBN 978-3-89967-891-8. [http://psydok.sulb.uni-saarland.de/volltexte/2013/4927/] (PDF-Datei 5,5&nbsp;MB)
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* [[Wikipedia:Jochen Fahrenberg|Jochen Fahrenberg]]: ''Zur Kategorienlehre der Psychologie. Komplementaritätsprinzip. Perspektiven und Perspektiven-Wechsel.'' Pabst Science Publishers, Lengerich 2013, ISBN 978-3-89967-891-8. [http://psydok.sulb.uni-saarland.de/volltexte/2013/4927/] (PDF-Datei 5,5&nbsp;MB)
 
* Volker Gerhardt, Norbert Herold (Hrsg.): ''Perspektiven des Perspektivismus.'' Königshausen & Neumann, Würzburg 1992, ISBN 3-88479-739-5.
 
* Volker Gerhardt, Norbert Herold (Hrsg.): ''Perspektiven des Perspektivismus.'' Königshausen & Neumann, Würzburg 1992, ISBN 3-88479-739-5.
* [[Ronald Giere|Ronald N. Giere]]: ''Scientific perspectivism.'' University of Chicago Press, Chicago 2006, ISBN 0-226-29212-6.
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* [[Wikipedia:Ronald Giere|Ronald N. Giere]]: ''Scientific perspectivism.'' University of Chicago Press, Chicago 2006, ISBN 0-226-29212-6.
* [[Carl Friedrich Graumann]]: ''Grundlagen einer Phänomenologie und Psychologie der Perspektivität.'' de Gruyter, Berlin 1960.
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* [[Wikipedia:Carl Friedrich Graumann|Carl Friedrich Graumann]]: ''Grundlagen einer Phänomenologie und Psychologie der Perspektivität.'' de Gruyter, Berlin 1960.
* [[Friedrich Kaulbach (Maler)|Friedrich Kaulbach]]: ''Philosophie des Perspektivismus: Wahrheit und Perspektive bei Kant, Hegel und Nietzsche.'' Mohr Siebeck, Tübingen 1990, ISBN 978-3-16-145641-1
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* [[Wikipedia:Friedrich Kaulbach (Maler)|Friedrich Kaulbach]]: ''Philosophie des Perspektivismus: Wahrheit und Perspektive bei Kant, Hegel und Nietzsche.'' Mohr Siebeck, Tübingen 1990, ISBN 978-3-16-145641-1
 
* Gert König: ''Perspektive, Perspektivismus, perspektivisch.'' In: Joachim Ritter et al. (Hrsg.): ''Historisches Wörterbuch der Philosophie.'' Band 7. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1989, S. 362–375.
 
* Gert König: ''Perspektive, Perspektivismus, perspektivisch.'' In: Joachim Ritter et al. (Hrsg.): ''Historisches Wörterbuch der Philosophie.'' Band 7. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1989, S. 362–375.
 
*Michael Lewin: ''Das System der Ideen. Zur perspektivistisch-metaphilosophischen Begründung der Vernunft im Anschluss an Kant und Fichte''. Freiburg/München: Alber 2021, ISBN 978-3-495-40015-9
 
*Michael Lewin: ''Das System der Ideen. Zur perspektivistisch-metaphilosophischen Begründung der Vernunft im Anschluss an Kant und Fichte''. Freiburg/München: Alber 2021, ISBN 978-3-495-40015-9
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