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Arzneibeziehungen
Eine Arzneibeziehung (engl.: Relationship of remedies concerning the effects) ist ein besonderes Verhältnis zweier oder mehrerer Arzneimittel zueinander im Sinne therapeutischer Ergänzung.
Von diesen Wirkverwandtschaften wird die Herkunftsverwandtschaft unterschieden, einer anderen Form von Arzneibeziehung [1].
Geschichte
1836 hat Clemens von Bönninghausen mit seinem „Versuch über die Verwandschaften der Arzneien“ [2] Grundlagen für Arzneibeziehungen zusammengefasst:
Wenn eine Arznei das Vermögen besitzt, die von einer Andern hervorgerufenen Arznei-Symptome, nach der Ähnlichkeit ihrer eigenen Wirkungen, heilkräftig (also in der Nachwirkung) auszulöschen, so bezeichne ich das gegenseitige Verhältniß, welches zwischen diesen beiden Arzneien besteht, mit dem Worte Verwandtschaft.
Aus dieser Definition geht hervor, daß ich einen wesentlichen Unterschied mache zwischen dem verwandtschaftlichen und dem bloß antidotarischen Verhältnisse der Arzneien zu einander. …
Hat man gegen Krankheits-Symptome, die durch eine arzneikräftige Substanz hervorgerufen sind, ein Antidot angewendet, welches (…) solche durch seine Erstwirkung hinwegnimmt, so werden erfahrungsmäßig nur diese getilgt, während sonstige Krankheitszustände, die sich an dem Leidenden vorfinden, dadurch in keiner Weise gebessert werden.
Anders verhält es sich, wenn man in solchem Falle ein Antidot reicht, welches durch seine Nachwirkung die Heilung hervorbringt. …
In dieser Erfahrung scheint hauptsächlich die Erklärung einer andern Erfahrung gesucht werden zu müssen, … nämlich: daß einige Arzneien weit heilkräftiger wirken, wenn eine Andere (Verwandte) vorhergegangen ist. …
Das Verständniß so wie der Gebrauch der nachstehenden Übersicht der Verwandschaften ergibt sich zwar schon aus dem zu Anfange Erwähnten. Indessen dürfte es für die Anfänger nicht überflüssig sein, in der Kürze noch folgendes Wenige darüber anzuführen:
- Die verwandten Arzneimittel sind gegenseitig Antidote, und können nach Maßgabe der Ähnlichkeit der Symptome vorzugsweise dazu mit Erfolg angewendet werden, indem sie … die entstandenen Arzneibeschwerden heilkräftig, (also nicht palliativ oder durch Erstwirkung) auslöschen.
- Die verwandten Mittel, nach einander gereicht, wirken erfahrungsmäßig weit heilkräftiger, als Nichtverwandte. …
- Eine ganz vorzügliche Gelegenheit zur Anwendung der Arznei-Verwandschaften bieten die sogenannten einseitigen Krankheiten, deren Heilung oft durch Mangel an einer hinlänglichen Anzahl charakteristischer Symptome so sehr erschwert wird. Hier bringt eine, nur unvollkommen passende Arznei sehr häufig eine derartige Veränderung im Gesammtbefinden und zugleich mehre charakteristische Indikationen hervor, daß es nun nicht mehr schwer ist, durch eins der verwandten und dem gegenwärtigen Symptomen-Komplexe genau entsprechenden Mittel das ganze Hauptleiden sammt den neu entstandenen Nebenbeschwerden zu tilgen. …
- Noch ausgedehnter (als bei den einseitigen Krankheiten) ist der Nutzen einer genauen Bekanntschaft mit den Verwandtschaften der Arzneien bei den chronischen Krankheiten, welche zu ihrer Heilung fast immer mehre, nach einander gereichte Arzneien verlangen. …
- Mehr als einmal ist der Fall vorgekommen, daß zwei Arzneien, die mit einander verwandt waren, in einer Krankheit so mit einander um den Vorzug stritten, daß die Wahl schwer war, und jede von ihnen einige Neben-Symptome deckte, welche der andern fehlten. Hier sah ich den besten Erfolg, wenn ich mit beiden Arzneien fortwährend wechselte, …
- Es ereignet sich bekanntlich zuweilen, daß nach einem passend scheinenden Mittel die Symptome sich erhöhen, wie bei einer starken Erstwirkung, ohne daß Besserung darauf folgt. … Hier ist eine Gabe einer verwandten und den Symptomen entsprechenden Arznei ganz vorzüglich an ihrem Orte. …
- Zu den Vortheilen … muß man endlich auch noch den zählen, daß man zu einem deutlicheren Bilde von der mehr oder minder umfangsreichen Wirkungs-Sphäre und von der Mannigfaltigkeit der Heilkräfte der Arzneien gelangt. …
Bönninghausen nimmt Bezug auf Samuel Hahnemann. Er hat in der 5. Auflage des Organons der Heilkunst (die damals aktuellste Ausgabe) in den §§ 172-184 (identisch mit der 6. Aufl. [4]) die Anwendung von Folgemitteln beschrieben.
§ 179: Im häufigern Falle aber kann die … zuerst gewählte Arznei nur zum Theil, das ist, nicht genau passen, da keine Mehrzahl von Symptomen zur treffenden Wahl leitete.
§ 180: Da wird nun die, zwar so gut wie möglich gewählte, aber … nur unvollkommen homöopathische Arznei, bei ihrer Wirkung gegen die ihr nur zum Theil analoge Krankheit - … - Nebenbeschwerden erregen, und mehre Zufälle aus ihrer eignen Symptomenreihe in das Befinden des Kranken einmischen, …; es werden Zufälle sich entdecken oder sich in höherm Grade entwickeln, die der Kranke kurz vorher gar nicht oder nicht deutlich wahrgenommen hatte.
§ 181: … Man hat mit einem Worte, den ganzen, jetzt sichtbar gewordenen Symptomen-Inbegriff für den, der Krankheit selbst zugehörigen, für den gegenwärtigen wahren Zustand anzunehmen und ihn hienach ferner zu behandeln.
§ 182: So leistet die, wegen allzu geringer Zahl anwesender Symptome hier fast unvermeidlich unvollkommene Wahl des Arzneimittels, dennoch den Dienst einer Vervollständigung des Symptomen-Inhalts der Krankheit und erleichtert auf diese Weise die Auffindung einer zweiten, treffender passenden, homöopathischen Arznei.
Will Klunker [5] schreibt zur Geschichte der Arzneibeziehungen:
Schon die ersten Arzneiprüfungen, die gewissermaßen auf Vergiftungen beruhen, konfrontieren Hahnemann und seine Prüfer mit Arzneibeziehungen. Die erste Arzneiprüfung der „Reinen Arzneimittellehre", Belladonna, enthält bereits eine Kritik des bislang als Antidot der Tollkirsche ausgegebenen Essigs, befaßt sich mit Antidoten, die antipathisch und palliativ gegen gewisse Beschwerden von Belladonna helfen (wie Opium), und solchen, die homöopathisch ihre Giftwirkungen beheben (wie Bilsenkraut). …
Laut Hering hat Hahnemann auch als erster darauf aufmerksam gemacht, daß Lycopodium, wenn es auf Calcarea folgt, besonders gut wirkt. Auch ungünstige Mittelfolgen wurden früh erkannt. …
Folgemittel und Antidote …. Diese zwei Begriffe vor allem waren es, welche die am Ausbau der homöopathischen Materia medica hauptsächlich Beteiligten in ihre Arzneimittellehren aufnahmen; es seien nur die Namen G.H.G. Jahr sowie A. Noack und C. F. Trinks erwähnt. Später folgten neben C. Hering und Bönninghausen noch H. N. Guernsey, C. B. Knerr, H. C. Allen, J. H. Clarke, J. T. Kent, E. A. Farrington, R. Gibson Miller, W. Boericke u.a., die der klassischen Homöopathie zugehören.
Von A. Teste ausgehend und weiter in den französischen Richtungen der sogenannten ‚Homöopathie moderne‘ wurden sehr spezielle und sehr theoretisch-spekulative Beziehungssysteme innerhalb der Materia medica entworfen, doch gehören diese nicht mehr in den Bereich der klassischen Homöopathie. …
Neben Anführungen von Arzneibeziehungen in den Arzneimittellehren von Autoren, die z. T. oben genannt wurden, sind schließlich auch Monographien entstanden, von denen bisher die in J. H. Clarkes „Clinical Repertory" enthaltene als die ausführlichste, „Relationship of Remedies" von R. Gibson Miller als die verbreiteste anzusehen ist. Arbeiten, die an den Grundlagen der Lehre von den homöopathischen Arzneibeziehungen ansetzen, sind … selten. …
Da jede Arznei durch je ihr eigene Krankheitsphänomene charakterisiert ist, ergeben sich in Analogie zur Ähnlichkeit der Patientenkrankheit mit der Arzneikrankheit … Ähnlichkeiten zwischen den Arzneikrankheiten der Arzneien selbst:
Starke Ähnlichkeiten sprechen für eine Arzneiverwandtschaft, während weitgehende oder völlige Unähnlichkeit von Arzneien eine Verwandtschaft ausschließt. So lassen sich um jedes
Mittel der Materia medica seine ihm nächst- und nahverwandten Mittel gruppieren.
Es gab in der Folge von Hahnemann und Bönninghausen viele Ansätze, bestimmte Beziehungen der Arzneimittel – sowohl die Wirkung fortsetzend als auch die Wirkung behindernd – zu beschreiben.
Wichtige Werke sind:
- 1853: Alphonse Teste. The Homeopathic Materia Medica, arranges systematically and practically.
- 1867: Rudolf Hermann Gross. Comparative Materia Medica, ed. C.Hering. Übersetzung: Vergleichende Arzneiwirkungslehre in therapeutischen Diagnosen (Arzneimittel-Diagnosen) enthaltend die Unterschiede der ähnlichen und verwandten Mittel; 1892
- 1897: Calvin B. Knerr. Annex to Hering C. Guiding Symptoms of Our Materia Medica.
- um 1910: Robert Gibson Miller. Relationship of Remedies.
- 1941: Herbert A. Roberts. The Study of Remedies by Comparison.
- 1989: Eugenio Candegabe. Materia Medica Compañada. Argentina; transl.: Comparative Materia Medica; 1997
- 1995: Robert Gibson Miller und Will Klunker. Arzneibeziehungen, 10. Aufl. Heidelberg: Haug; 1995
- 1997: Abdur Rehman. Handbuch der homöopathischen Arzneibeziehungen. 4. Auf. Heidelberg: Haug; 2014
Details
Wenn ein homöopathisches Mittel zu passen scheint, aber nicht wirkt, andererseits aber Heilungshindernisse ausgeschlossen sind, wird ein sehr ähnliches, besser passendes Arzneimittel gesucht. In diesem Fall kann die Kenntnis der Wirkungsverwandtschaften die Suche erleichtern.
Leitsymptome
In vielen ausführlichen Arzneimittellehren sind bei besonderen Symptomen eines Arzneimittels Alternativen aufgelistet, also Arzneimittel, die eben dieses Symptom auch im Mittelbild verzeichnen und differenzialdiagnostisch bzw. differenzialtherapeutisch in Frage kommen. Oft werden diese Hinweise mit „DD“ (Differenzialdiagnose), „verwandte Mittel“ (was wirkungsverwandt bedeutet) oder „Kollateralmittel“ bezeichnet. Dieser letztgenannte Begriff (aus dem Englischen „collateral remedy“ übersetzt) ist etwas missverständlich; die wörtliche Bedeutung, „nebenstehend“, scheint ins Abseits zu führen, es handelt sich schlicht um wirkungsverwandte und damit „ähnliche“, vergleichbare Arzneimittel. Somit sollten diese Mittel vor einer Verordnung betrachtet und verglichen werden, um die Mittelwahl sicherer zu machen, und sie können bei mangelhafter Wirkung des ersten Mittels alternativ herangezogen werden.
Modalitäten
Was für Leitsymptome gilt, ist für gemeinsame Modalitäten verschiedener Arzneien in gleicher Weise gültig. So weisen z.B. Mittel mit einer Verschlimmerung am Nachmittag (Lycopodium, Colocynthis, Chelidonium usw.) auch in anderen Bezügen viele Gemeinsamkeiten auf. Die Arzneimittel mit der Modalität „schlimmer durch Ärger“ (Colocynthis, Hepar sulfuris, Ignatia, Ipecacuanha, Nux vomica usw.) müssen bei einem Patienten, der dieses Symptom zeigt, ebenfalls genauer verglichen werden. Nicht selten ist bei mangelnder Wirkung ein wirkungsverwandtes Mittel aus dieser Gruppe das besser passende.
Miasmen
Eine sehr häufig vorgenommene Charakterisierung, die vielfach diskutiert, aber auch umstritten ist, betrifft die Kategorisierung der Arzneimittel nach ihren Miasmen. Wenn die Symptomatik des Patienten einem bestimmten Miasma zuzuordnen ist, ist es tatsächlich hilfreich, ein Mittel zu wählen, das auch in den übrigen, hier nicht erfassten Bezügen dem zugrunde liegenden Miasma entspricht. Viele Arzneimittel allerdings lassen sich nicht eindeutig einem bestimmten Miasma zuordnen, weil sie „mehrmiasmatisch“ sind, sodass diese Systematik in der Praxis Schwächen hat.
Therapeutische Ergänzung
Die Begriffe „Folgemittel“, „Komplementärmittel“ oder “ Zwischenmittel“ (interkurrentes Mittel) sind in der Literatur nicht eindeutig definiert und nicht deutlich voneinander abzugrenzen. Sie sollen das Phänomen beschreiben, dass ein zweites Arzneimittel die begonnene Heilwirkung eines ersten Mittels weiterführt oder ergänzt. In der Praxis ist es wichtig, sich an die schlichte Empfehlung Hahnemanns zu halten:
Daher muß …, wie überall wo eine Aenderung des Krankheits-Zustandes vorgegangen ist, der gegenwärtig noch übrige Symptomen-Bestand auf’s Neue ausgemittelt und (…) eine dem neuen, jetzigen Zustande möglichst angemessene, homöopathische Arznei von Neuem ausgewählt werden. … (Organon der Heilkunst § 170)
Häufig zeigt sich, dass einem Mittel bevorzugt ganz bestimmte andere Mittel folgen, die nicht nur wirkungsähnlich („Kollateralmittel“) sind, sondern tatsächlich den Fortgang der Heilung fördern („Folgemittel“) oder die Wirkung des ersten vervollständigen („Komplementärmittel“). Bekannt sind Empfehlungen von einigen bedeutenden Autoren, v.a. John Henry Clarke, für die Abfolge bestimmter Arzneien in bestimmter Reihenfolge, damit sich die Wirkungen dieser Arzneien optimal ergänzen, sogenannte à Mittelreihen.
Ein Sonderfall ist die Zwischenschaltung eines Arzneimittels („Zwischenmittel“) im Rahmen einer wiederholten Gabe eines anderen Mittels. Oft sind es à Nosoden, die dazu verwendet werden, um eine nachlassende Reaktion wieder anzufachen (vgl. Reaktionsmittel), indem bestimmte miasmatische Auswirkungen gezielt intermediär behandelt werden.
Davon abzugrenzen ist das „interkurrente Arzneimittel“ für eine Akutkrankheit während einer chronischen Behandlung. Auch hier hat sich in der Praxis gezeigt, dass ganz bestimmte “Akutmittel“ zu bestimmten „chronischen Mitteln“ passen, das heißt, sich regelmäßig aufgrund ihres Arzneimittelbildes anbieten.
Eine besondere Arzneibeziehung ist die Eigenschaft eines Mittels als Antidot gegen ein anderes, das dessen nachteilige Wirkung aufhebt. Angaben zu Antidot-Beziehungen sind kritisch zu sehen. Was im einen Fall als Antidot unerwünschte Wirkungen eines bestimmten Mittels aufheben kann, wirkt im anderen Fall nach demselben Mittel komplementär, ergänzt also dessen positive Wirkung. Homöopathische Antidote werden schlicht nach Hahnemanns Anweisung gewählt: Die aktuellen Symptome bestimmen die Wahl des neuen Mittels.
Zu den Arzneibeziehungen gehören die Eigenschaft als Antidot, Diadot, feindliches Arzneimittel, Folgemittel, Homöodot, interkurrentes Arzneimittel, Kollateralmittel, Komplementärmittel.
Weitere Aspekte sind unter folgenden Stichworten zu finden: Akutmittel, Doppelmittel, Komplexmittel, Konstitutionsmittel, Konkordanzen, Mittelabfolge, Reaktionsmittel, Synergismus, Verwandtschaften homöopathischer Arzneimittel.
Literatur
[1] Bleul G: Verwandtschaftsbeziehungen von Arzneien; in: Bleul G (Hrsg.): Weiterbildung Homöopathie Band D, 2. Aufl. Stuttgart: Sonntag Verlag in MVS; 2009
[2] Bönninghausen Cv. Versuch über die Verwandtschaften der homöopathischen Arzneien – Nebst einer abgekürzten Übersicht ihrer Eigenthümlichkeiten und Hauptwirkungen. Coppenrathschen Buch- und Kunsthandlung: Münster; 1836
[3] Hahnemann S. Die chronischen Krankheiten, Band 1, 2. Aufl. Düsseldorf: J.E. Schaub; 1835
[4] Hahnemann S. Organon der Heilkunst, Textkritische Ausgabe der 6. Auflage, bearb. u. hrsg. v. Schmidt JM. Heidelberg: Haug Verlag; 1992
[5] Klunker W: Arzneibeziehungen. ZKH 39, 1995 (6): 229-235
[6] Miller RG, Klunker W. Arzneibeziehungen, 10. Aufl. Heidelberg: Haug; 1995
[7] Rehman A. Handbuch der homöopathischen Arzneibeziehungen, 4. Aufl. Heidelberg: Haug; 2014
Autor(en)
Gerhard Bleul, 2019-07-20