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Gaia-Hypothese

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Lynn Margulis
James Lovelock

Die Gaia-Hypothese besagt, dass die Erde und ihre Biosphäre wie ein Lebewesen betrachtet werden könne, da die Biosphäre – die Gesamtheit aller Organismen – Bedingungen schafft und erhält, die nicht nur Leben, sondern auch eine Evolution komplexerer Organismen ermöglichen. Die Erdoberfläche bildet demnach ein dynamisches System, das die gesamte Biosphäre stabilisiert. Diese Hypothese setzt eine bestimmte Definition von Leben voraus, wonach sich Lebewesen insbesondere durch die Fähigkeit zur Selbstorganisation auszeichnen.

Die Gaia-Hypothese wurde von der Mikrobiologin Lynn Margulis und dem Chemiker, Biophysiker und Mediziner James Lovelock Mitte der 1970er-Jahre entwickelt.[1]

Der Name leitet sich von Gaia, der Großen Mutter in der griechischen Mythologie, ab. Die Gaia-Hypothese motivierte ihrerseits Beschäftigungsfelder wie Geophysiologie, die Landschaftsökologie in einen holistischen Kontext stellt.

Als älteste gedankliche Vorläufer der Hypothese nennt Lovelock Charles Darwins Evolutionstheorie und Alexander von Humboldts Werk Kosmos – Entwurf einer physischen Weltbeschreibung.[2]

Gaia-Hypothese und Faktenlage

In ihren Büchern tragen die Begründer der Gaia-Hypothese verschiedene Fakten zusammen, die das Bild vom selbstorganisierenden, „lebenden“ Planeten stützen sollen. Jüngere geowissenschaftliche Erkenntnisse haben die Diskussion weiter angeheizt.

Beispiel Sauerstoff

O2 Konzentrationen der Atmosphäre über die letzten 3,8 Milliarden Jahre (Ga).[3] Die rote und die grüne Kurve geben die ermittelten Maximal- bzw. Minimalwerte an.
Phasen (Stages)
Phase 1 (vor 3,85–2,45 Ga): Praktisch kein O2 in der Atmosphäre.
Phase 2 (vor 2,45–1,85 Ga): O2 Anstieg, in Weltmeeren und mineralischen Sedimenten absorbiert.
Phase 3 (vor 1,85–0,85 Ga): Ozeane sind O2-gesättigt, die weitere mineralische Absorption erfolgt überwiegend an Land.
Phase 4 (vor 0,85–0,6 Ga): O2 entweicht in die Atmosphäre, die anorganischen Aufnahmekapazitäten sind gefüllt. Landleben wird auch für O2-Atmer (Tiere) möglich.
Phase 5 (vor 0,6 Ga bis heute): O2 akkumuliert in der Atmosphäre.

Der Gaia-Hypothese zufolge blieb der Sauerstoffgehalt der Atmosphäre weitgehend konstant, seit das Leben auf dem Land aktiv ist. Die Gaia-Hypothese besagt, dass das System „Leben“ selbst den Anteil stabil hält. (Eine Konsequenz dieser Überlegung ist, dass ein Exoplanet mit einer Atmosphäre, die Sauerstoff und ein Gas, das mit Sauerstoff reagiert, enthält, ein Indiz für Leben sei. Die Atmosphäre des Jupitermondes Europa enthält Sauerstoff, aber nicht nennenswert andere Stoffe.)

Tatsächlich stieg die Sauerstoffkonzentration der Atmosphäre im Zeitraum vor 2,2 Milliarden Jahren bis vor 2 Milliarden Jahren von unter 0,0008 atm auf über 0,002 atm durch die sich etablierenden photosynthetisch aktiven Mikroorganismen. Vor 300 Millionen Jahren hatte die Sauerstoffkonzentration mindestens 0,21 atm erreicht als Resultat der Aktivität von Landpflanzen.[4] Seit Besiedelung der Landflächen schwankte der Sauerstoffgehalt der Atmosphäre wesentlich stärker, als in den Zeiträumen davor.[3]

Beispiel Klimaschwankungen

Das globale Klima war bis vor 600 Millionen Jahren extremen Schwankungen ausgesetzt, aber der Gaia-Hypothese zufolge soll es seither stabil geblieben sein. Zeitweise war die Erde von einem Eispanzer regelrecht überzogen („Schneeball Erde“), während sie zu anderen Zeiten komplett eisfrei war. Kritiker der Gaia-Hypothese argumentieren deshalb, dass solche extremen Schwankungen der Idee einer im Gleichgewicht gehaltenen Erde widersprechen.

Schätzung der oberflächennahen Globaltemperaturen innerhalb der letzten 541 Millionen Jahre[5]

Befürworter sehen es umgekehrt: Eine Erklärung für diese frühen Klimaschwankungen ist, dass es in jener frühen Zeit (Präkambrium) noch keine komplexen Organismen mit Skeletten oder Kalkschalen gab. Denn das kalkhaltige Meeresplankton spielt heute eine enorme Rolle für den CO2-Haushalt der Meere. Wenn diese Organismen wachsen, nehmen sie Kohlenstoffdioxid (CO2) aus dem Wasser auf, und wenn sie wieder sterben, sinken sie mitsamt ihrer Kalkschale auf den Meeresgrund, wo sich dann im Laufe der Jahrmillionen massive Kalksedimente bilden. Auf diese Weise stabilisiert sich chemisch der CO2-Gehalt der Meere – damit indirekt auch der der Atmosphäre. Die Entstehung dieser Organismen hätte demzufolge dazu beigetragen, die Lebensbedingungen auf der Erde zu stabilisieren und somit zu verbessern. Tatsächlich unterlag aber auch die Globaltemperatur der letzten 600 Millionen Jahre ganz erheblichen Schwankungen zwischen extremem Treibhausklima (Perm-Trias) und mehreren Eiszeitaltern (Ordovizium, PermKarbon, Känozoikum).[5]

Beispiel Salzgehalt der Meere

Der Salzgehalt der Meere liegt konstant bei 3,5 %. Obwohl vom Land weiterhin beträchtliche Mengen an Mineralien gelöst und ins Meer verfrachtet werden, ist der Salzgehalt seit Jahrmillionen nicht mehr gestiegen. Nimmt man an, dass die Mineralfracht in früheren Zeiten ähnlich hoch war wie heute, müsste inzwischen so viel Salz in den Meeren sein, dass höhere Lebensformen nicht mehr existieren könnten. Tatsächlich gibt es Prozesse, die Salz auch wieder aus dem Ozean entfernen. Hierzu gehört zum einen die Bildung von Lagunen und abgeschlossenen Meeresbecken, in denen sich Meerwasser sammelt, verdunstet und sich auf diese Weise mächtige Salzablagerungen bilden. An der Bildung solcher Lagunen sind riffbildende Organismen beteiligt. Auch dies ist somit nach Lovelock ein Prozess, bei dem die Gemeinschaft der Lebewesen selbst dafür sorgt, dass ihre Lebensbedingungen erhalten bleiben. Zum anderen werden Methylchlorid und Methyliodid durch Meeresalgen produziert und anschließend in die Atmosphäre freigesetzt. Auch durch diesen biologischen Prozess werden Salzbestandteile wie Chlor aus dem Meerwasser entfernt.

Gegen diese Argumentation sprechen jüngere Forschungen. Die Theorie, der Urozean sei mit der Zeit immer salziger geworden, konnte nicht bestätigt werden. Offenbar war der Salzgehalt bereits vor über einer Milliarde Jahren höher als heute – was mit ein Grund dafür gewesen sein könnte, dass es so lange gedauert hat, bis sich höhere Lebensformen in den Ozeanen entwickelten.[6]

Geschichte

Die Ursprünge der Gaia-Hypothese liegen im wissenschaftlichen Hintergrund der beiden Forscher James Lovelock und Lynn Margulis. Der Geochemiker Lovelock befasste sich intensiv damit, wie die Biosphäre im Laufe der Erdgeschichte die Erdatmosphäre verändert hat und noch immer verändert. Er postulierte 1969 einen Rückkopplungsmechanismus für eine tendenziell abnehmende Konzentration des Treibhausgases CO2 bei ansteigender Sonneneinstrahlung. „Diese Phänomene“, schrieb Lovelock, „sind nur verständlich, wenn der Planet als ein einziger lebender Organismus angesehen wird.“

Die Biologin Lynn Margulis wiederum gilt als eine der Begründerinnen der Endosymbiontentheorie, wonach die heutigen Zellen einst aus der Symbiose eigenständiger Organismen entstanden sind. Die Idee der Symbiose hat ihr gesamtes biologisches Denken geprägt. „Gaia“, meinte Greg Hinkle (Student von Lynn Margulis und heute Professor), sei „Symbiose aus dem Weltraum betrachtet“[7]. Schließlich besagt die Gaia-Hypothese, dass die Gesamtheit der Organismen auf der Erde gewissermaßen in Symbiose einen größeren Organismus bilden.

Die Bezeichnung Gaia-Hypothese basiert auf einer Anregung des Schriftstellers William Golding, der in der gleichen Ortschaft wie (bis 1976) Lovelock lebte (Bowerchalke, Wiltshire, UK). Goldings Vorschlag basierte auf Gea, einer alternativen Schreibweise für den Namen der griechischen Göttin, der als Präfix in Geologie, Geophysik und Geochemie Verwendung findet. Golding thematisierte Gaia Mater 1983 in seiner Nobelpreisrede.[8]

1983 schlug Glenn Shaw eine später als CLAW-Hypothese bezeichnete Alternative vor, nach der der globale Thermostat nicht auf dem Kohlenstoffkreislauf zwischen Biosphäre und subduzierten Sedimenten, sondern auf einem Schwefelkreislauf zwischen Ozean und Atmosphäre beruht.[9] Auch dabei spielt Phytoplankton eine große Rolle.

Mehrere wissenschaftliche Symposien haben sich mit der Gaia-Theorie beschäftigt, das jüngste davon 2006 in Arlington. Einige Wissenschaftler (allen voran Peter Ward) haben inzwischen auch eine Gegenthese formuliert, in der sie die Biosphäre eher als Medea beschreiben, da sie in bestimmten Fällen auch selbstzerstörerisch sein könne. Als Belege führen sie unter anderem jüngere Erkenntnisse an, wonach von Bakterien produzierte Halogen-Kohlenwasserstoffe das Massenaussterben an der Perm-Trias-Grenze ausgelöst haben könnten.[10]

Verständnis von Leben

Der Gaia-Hypothese liegt ein systemtheoretisches Verständnis von Leben zu Grunde. Ein Lebewesen ist demnach ein offenes und Entropie-produzierendes System, das sich reaktiv und selbstorganisierend in einer Weise an seine Umgebung anpassen kann, dass es durch Entropie-Export seine Entropie dynamisch unterhalb seiner maximalen Entropie zu halten vermag. Ein zentrales Kennzeichen von Lebewesen ist zudem die Fortpflanzung.

Modellierung

Um die Gaia-Hypothese zu untermauern und der Kritik zu begegnen, sie sei rein teleologisch, schuf Lovelock mit Daisyworld eine einfache Computersimulation, in der das Leben in einem selbstregulierenden Prozess trotz sich ändernder äußerer Parameter konstante Umweltbedingungen auf einem Planeten aufrechterhält.

Wirkung und spirituelle Verklärung

Seit der Formulierung steht die Hypothese in der Diskussion zwischen Kritik und Faszination für das Bild, das sie transportiert.

Der Begründer der Gaia-Hypothese, James Lovelock, bemerkt dazu:

„Aber wenn ich von einem lebendigen Planeten spreche, soll das keinen animistischen Beiklang haben; ich denke nicht an eine empfindungsfähige Erde oder an Steine, die sich nach eigenem Willen und eigener Zielsetzung bewegen. Ich denke mir alles, was die Erde tun mag, etwa die Klimasteuerung, als automatisch, nicht als Willensakt; vor allem denke ich mir nichts davon als außerhalb der strengen Grenzen der Naturwissenschaften ablaufend. Ich achte die Haltung derer, die Trost in der Kirche finden und ihre Gebete sprechen, zugleich aber einräumen, dass die Logik allein keine überzeugenden Gründe für den Glauben an Gott liefert. In gleicher Weise achte ich die Haltung jener, die Trost in der Natur finden und ihre Gebete vielleicht zu Gaia sprechen möchten.“[11]

Im Zuge der Ökologiebewegung hat die Gaia-Hypothese viele Anhänger in der Hippie- und New-Age-Bewegung gefunden. Hier wird die Erde gelegentlich als „beseelter“ Organismus dargestellt, der – wie eine Erdgöttin – bestraft und belohnt. Damit wird Prozessen eines Ökosystems eine Bedeutung gegeben, die zu teleologischen Erklärungsversuchen führt. Die Begründer der Hypothese haben sich von einer solchen Auslegung ihrer Hypothese stets distanziert.

Trivia

Die Gaia-Hypothese wird im Kinofilm Kingsman: The Secret Service als Forschungsgebiet des fiktiven Wissenschaftlers Professor James Arnold dargestellt.

Siehe auch

Literatur

  • Nadja Podbregar: Organismus Erde? Von der Gaia-Hypothese zum System Erde In: Nadja Podbregar; Dieter Lohmann: Im Fokus: Geowissen. Wie funktioniert unser Planet? Springer Verlag, Berlin, Heidelberg, 2013, e-ISBN 978-3-642-34791-7, S. 153–160.
  • Helan Jaworski: Le Géon ou la Terre vivante. Librairie Gallimard, Paris 1928.
  • Jim E. Lovelock: Unsere Erde wird überleben: GAIA, eine optimistische Ökologie. (Aus dem Engl. von Constanze Ifantis-Hemm.) Piper, München 1982, ISBN 3-492-02580-3; Original: James Lovelock: Gaia - a new look at life on Earth, 1979.
  • James Lovelock: Das Gaia-Prinzip: die Biographie unseres Planeten. (Aus dem Engl. übertr. von Peter Gillhofer und Barbara Müller.) Artemis & Winkler, Zürich, München 1991. Ill., ISBN 3-7608-1050-0; Original: The Ages of Gaia
  • James Lovelock: Gaia: Die Erde ist ein Lebewesen. (Aus dem Engl. übertr. von Jochen Eggert und Marcus Würmli.) Scherz, Bern, München, Wien 1992. 191 S.; Ill., ISBN 3-502-17420-2; Original: GAIA - The practical science of planetary medicine.
  • James Lovelock: Gaias Rache. Warum die Erde sich wehrt. List 2007, ISBN 3-471-79550-2.
  • Lynn Margulis: Symbiotic Planet: A New Look at Evolution. Basic Books, ISBN 0-465-07272-0.
  • Lynn Margulis: Die andere Evolution. 1999, ISBN 3-8274-0294-8 (dt. Übersetzung).
  • Elisabet Sahtouris: Gaia. Vergangenheit und Zukunft der Erde. Insel Verlag, Frankfurt/M. 1998, ISBN 3-458-16525-8.

Weblinks

 Commons: Gaia-Hypothese – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. James Lovelock, Lynn Sagan: Atmospheric homeostasis by and for the biosphere: the Gaia hypothesis In: Tellus. Series A. Stockholm: International Meteorological Institute. Band 26, Nr. 1–2, 1974, S. 2–10.
  2. James Lovelock: Das Gaia-Prinzip. Die Biographie unseres Planeten. Artemis und Winkler, Zürich/München 1991, ISBN 3-7608-1050-0. Neuauflage mit Einführung von Ugo Bardi. Übersetzung aus dem Englischen ins Deutsche Barbara Müller und Peter Gillhofer. Oekom-Verlag, München 2021. ISBN 978-3-96238-212-4. S. 9–10.
  3. 3,0 3,1 H. D. Holland: The oxygenation of the atmosphere and oceans. In: Philosophical Transactions of the Royal Society B: Biological Sciences, Band 361, Nr. 1470, 2006, S. 903–915, .
  4. Timothy M. Lenton: The coupled evolution of life and atmospheric oxygen. In: Evolution on Planet Earth. The Impact of the Physical Environment, Academic Press, 2003, S. 35–53, .
  5. 5,0 5,1 Christopher R. Scotese: The Earth’s Temperature & Climate: Past, Present & Future. Dallas 2019.
  6. L. Paul Knauth: Salinity history of the Earth’s early ocean. In: Nature, Band 395, 8. Oktober 1998, S. 554–555.
  7. Lynn Margulis. Der symbiotische Planet. Übersetzung aus dem Englischen Sebastian Vogel. Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2021. ISBN 978-3-86489-907-2 (Taschenbuchausgabe). S. 8 (Prolog).
  8. http://www.nobelprize.org/nobel_prizes/literature/laureates/1983/golding-lecture.html
  9. Glenn E. Shaw: Bio-controlled thermostasis involving the sulphur cycle. In: Climate Change, Band 5, 1983, S. 297–303, doi:10.1007/BF02423524.
  10. Peter Ward: Gaia’s evil twin: Is life its own worst enemy? In: New Scientist Nr. 2713 [1]
  11. James Lovelock: Gaia – Die Erde ist ein Lebewesen. 2. Auflage, Scherz, Bern, München, Wien 1992. S. 32.