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'''Evidenzbasierte Medizin''' ('''EbM''', von englisch ''{{lang|en|evidence-based medicine}} (EBM)'' „auf empirische Belege gestützte Heilkunde“) ist eine jüngere Entwicklungsrichtung in der [[Medizin]], die ausdrücklich die Forderung erhebt, dass bei einer medizinischen [[Therapie|Behandlung]] patientenorientierte Entscheidungen nach Möglichkeit auf der Grundlage von [[Empirie|empirisch]] nachgewiesener Wirksamkeit getroffen werden sollen. Die wissenschaftliche Aussagefähigkeit klinischer Studien wird durch [[Evidenzgrad]]e beschrieben. Die Evidenzbasierte Medizin soll eine „patientenzentrierte Wissenschaftlichkeit“ fundieren.<ref>Christopher Baethge: [http://www.aerzteblatt.de/pdf.asp?id=162409 ''Evidenzbasierte Medizin: In der Versorgung angekommen, aber noch nicht heimisch.''] In: ''Dtsch Arztebl.'' 111(39), 2014, S. A-1636 / B-1416 / C-1348.</ref>
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'''Evidenzbasierte Medizin''' ('''EbM''', von englisch ''{{lang|en|evidence-based medicine}} (EBM)'' „auf empirische Belege gestützte Heilkunde“) ist eine jüngere Entwicklungsrichtung in der [[Medizin]], die ausdrücklich die Forderung erhebt, dass bei einer medizinischen [[Therapie|Behandlung]] patientenorientierte Entscheidungen nach Möglichkeit auf der Grundlage von [[Wikipedia:Empirie|empirisch]] nachgewiesener Wirksamkeit getroffen werden sollen. Die wissenschaftliche Aussagefähigkeit klinischer Studien wird durch [[Evidenzgrad]]e beschrieben. Die Evidenzbasierte Medizin soll eine „patientenzentrierte Wissenschaftlichkeit“ fundieren.<ref>Christopher Baethge: [http://www.aerzteblatt.de/pdf.asp?id=162409 ''Evidenzbasierte Medizin: In der Versorgung angekommen, aber noch nicht heimisch.''] In: ''Dtsch Arztebl.'' 111(39), 2014, S. A-1636 / B-1416 / C-1348.</ref>
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Die Bezeichnung wurde Anfang der 1990er Jahre von [[Gordon Henry Guyatt|Gordon Guyatt]] (* 1953) aus der Gruppe um [[David Sackett]] an der [[McMaster University]], Hamilton, Kanada, im ''Department of Clinical Epidemiology and Biostatistics'' geprägt.<ref>[http://www.time.com/time/magazine/article/0,9171,1590448,00.html ''{{lang|en|Are Doctors Just Playing Hunches?}}'' Das Time Magazine über EbM (15. Februar 2007)]</ref> Im deutschen Sprachraum wurde über das Konzept erstmals 1995 publiziert,<ref>[http://www.ebm-netzwerk.de/wir_ueber_uns/chronik Deutsches Netzwerk EbM: Chronik der EbM]</ref> wobei die Verfasser bei der Übertragung ins [[Deutsche Sprache|Deutsche]] einem [[Falscher Freund|falschen Freund]] erlagen: Während ''evidence'' im [[Englische Sprache|Englischen]] je nach Kontext die Bedeutungen ‚Beweis‘, ‚Beleg‘, ‚Hinweis‘ oder ‚Zeugenaussage‘ hat, ist die Bedeutung von ''[[Evidenz]]'' im Deutschen ''Offensichtlichkeit (die keines Beweises bedarf)'' (englisch: ''obviousness''). Deshalb wurde vorgeschlagen, im Deutschen die Bezeichnung '''nachweisorientierte Medizin''' zu verwenden, was sich jedoch nicht durchgesetzt hat.<ref>St. Bilger: [http://books.google.de/books?id=yPr7dHvid7oC&pg=PA74&lpg=PA74&dq=evidenz+offensichtlichkeit&source=bl&ots=Ky25ZpPORv&sig=_fdyqCVhoI5AVvjlS06c43g4DwU&hl=de&ei=sLs0St35OsW4-Qb_-N2gDQ&sa=X&oi=book_result&ct=result&resnum=1 ''Evidence-based Medicine.''] In: Hans-Ulrich Comberg (Hrsg.): ''Allgemeinmedizin.'' 4. Ausgabe, Thieme 2004, ISBN 3-13-126814-X, S.&nbsp;74.</ref> Im Jahre 2000 wurden „[[Medizinische Leitlinie|evidenzbasierte Leitlinien]]“ in das deutsche Sozialgesetzbuch (§§ 137e, 137f, 137g, 266 [[SGB V]], Strukturierte Behandlungsprogramme bei chronischen Krankheiten) eingeführt.<ref>[http://www.ebm-netzwerk.de/wir_ueber_uns/chronik#meilensteine Deutsches Netzwerk Evidenzbasierte Medizin e.V.: Chronik – Meilensteine 1998–2008]</ref><ref>[http://www.sozialgesetzbuch-sgb.de/sgbv/137f.html § 137f SGB V]</ref>
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Die Bezeichnung wurde Anfang der 1990er Jahre von [[Gordon Henry Guyatt|Gordon Guyatt]] (* 1953) aus der Gruppe um [[Wikipedia:David Sackett|David Sackett]] an der [[Wikipedia:McMaster University|McMaster University]], Hamilton, Kanada, im ''Department of Clinical Epidemiology and Biostatistics'' geprägt.<ref>[http://www.time.com/time/magazine/article/0,9171,1590448,00.html ''{{lang|en|Are Doctors Just Playing Hunches?}}'' Das Time Magazine über EbM (15. Februar 2007)]</ref> Im deutschen Sprachraum wurde über das Konzept erstmals 1995 publiziert,<ref>[http://www.ebm-netzwerk.de/wir_ueber_uns/chronik Deutsches Netzwerk EbM: Chronik der EbM]</ref> wobei die Verfasser bei der Übertragung ins [[Wikipedia:Deutsche Sprache|Deutsche]] einem [[Wikipedia:Falscher Freund|falschen Freund]] erlagen: Während ''evidence'' im [[Wikipedia:Englische Sprache|Englischen]] je nach Kontext die Bedeutungen ‚Beweis‘, ‚Beleg‘, ‚Hinweis‘ oder ‚Zeugenaussage‘ hat, ist die Bedeutung von ''[[Evidenz]]'' im Deutschen ''Offensichtlichkeit (die keines Beweises bedarf)'' (englisch: ''obviousness''). Deshalb wurde vorgeschlagen, im Deutschen die Bezeichnung '''nachweisorientierte Medizin''' zu verwenden, was sich jedoch nicht durchgesetzt hat.<ref>St. Bilger: [http://books.google.de/books?id=yPr7dHvid7oC&pg=PA74&lpg=PA74&dq=evidenz+offensichtlichkeit&source=bl&ots=Ky25ZpPORv&sig=_fdyqCVhoI5AVvjlS06c43g4DwU&hl=de&ei=sLs0St35OsW4-Qb_-N2gDQ&sa=X&oi=book_result&ct=result&resnum=1 ''Evidence-based Medicine.''] In: Hans-Ulrich Comberg (Hrsg.): ''Allgemeinmedizin.'' 4. Ausgabe, Thieme 2004, ISBN 3-13-126814-X, S.&nbsp;74.</ref> Im Jahre 2000 wurden „[[Wikipedia:Medizinische Leitlinie|evidenzbasierte Leitlinien]]“ in das deutsche Sozialgesetzbuch (§§ 137e, 137f, 137g, 266 [[Wikipedia:SGB V|SGB V]], Strukturierte Behandlungsprogramme bei chronischen Krankheiten) eingeführt.<ref>[http://www.ebm-netzwerk.de/wir_ueber_uns/chronik#meilensteine Deutsches Netzwerk Evidenzbasierte Medizin e.V.: Chronik – Meilensteine 1998–2008]</ref><ref>[http://www.sozialgesetzbuch-sgb.de/sgbv/137f.html § 137f SGB V]</ref>
    
== Definition und Anwendung ==
 
== Definition und Anwendung ==
 
Definiert wird die Evidenzbasierte Medizin (EbM oder EBM) ursprünglich als der „gewissenhafte, ausdrückliche und umsichtige Gebrauch der aktuell besten Beweise für Entscheidungen in der Versorgung eines individuellen Patienten“.<ref name="Sackett">D. L. Sackett, W. M. Rosenberg, J. A. Gray, R. B. Haynes, W. S. Richardson: ''Evidence based medicine: what it is and what it isn't. 1996.'' In: ''Clinical orthopaedics and related research.'' Band 455, Februar 2007, S.&nbsp;3–5, [[doi:10.1136/bmj.312.7023.71]]. PMID 17340682.</ref> EbM beruht demnach auf dem jeweiligen aktuellen Stand der klinischen Medizin auf der Grundlage [[Klinische Studie|klinischer Studien]] und medizinischer Veröffentlichungen, die einen Sachverhalt erhärten oder widerlegen – die sogenannte ''externe Evidenz''.
 
Definiert wird die Evidenzbasierte Medizin (EbM oder EBM) ursprünglich als der „gewissenhafte, ausdrückliche und umsichtige Gebrauch der aktuell besten Beweise für Entscheidungen in der Versorgung eines individuellen Patienten“.<ref name="Sackett">D. L. Sackett, W. M. Rosenberg, J. A. Gray, R. B. Haynes, W. S. Richardson: ''Evidence based medicine: what it is and what it isn't. 1996.'' In: ''Clinical orthopaedics and related research.'' Band 455, Februar 2007, S.&nbsp;3–5, [[doi:10.1136/bmj.312.7023.71]]. PMID 17340682.</ref> EbM beruht demnach auf dem jeweiligen aktuellen Stand der klinischen Medizin auf der Grundlage [[Klinische Studie|klinischer Studien]] und medizinischer Veröffentlichungen, die einen Sachverhalt erhärten oder widerlegen – die sogenannte ''externe Evidenz''.
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In der klinischen Praxis der EbM bedeutet dies die Integration individueller klinischer [[Expertise]] mit der besten verfügbaren externen Evidenz aus systematischer Forschung; sie schließt auch die ''Patientenpräferenz'' mit ein.
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In der klinischen Praxis der EbM bedeutet dies die Integration individueller klinischer [[Wikipedia:Expertise|Expertise]] mit der besten verfügbaren externen Evidenz aus systematischer Forschung; sie schließt auch die ''Patientenpräferenz'' mit ein.
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EbM kann auch den Verzicht auf Therapie beinhalten, d.&nbsp;h. zu wissen, wann keine Therapie (anzubieten/vorzuschlagen) besser ist für den Patienten als das Anbieten/Vorschlagen einer bestimmten Therapie.<ref name="Jama">J. M. Torpy: [http://jama.jamanetwork.com/article.aspx?articleid=1731818 ''Evidence-Based Medicine.''] In: ''JAMA: The Journal of the American Medical Association.'' 296, 2006, S.&nbsp;1192, [[doi:10.1001/jama.296.9.1192]].</ref> Ein häufig genanntes Beispiel ist [[Prostatakrebs]] bei alten Männern: Je nach Alter, Lebenserwartung und dem Entwicklungsstadium des Krebses ist oft das Nicht-Therapieren die beste Entscheidung.
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EbM kann auch den Verzicht auf Therapie beinhalten, d.&nbsp;h. zu wissen, wann keine Therapie (anzubieten/vorzuschlagen) besser ist für den Patienten als das Anbieten/Vorschlagen einer bestimmten Therapie.<ref name="Jama">J. M. Torpy: [http://jama.jamanetwork.com/article.aspx?articleid=1731818 ''Evidence-Based Medicine.''] In: ''JAMA: The Journal of the American Medical Association.'' 296, 2006, S.&nbsp;1192, [[doi:10.1001/jama.296.9.1192]].</ref> Ein häufig genanntes Beispiel ist [[Wikipedia:Prostatakrebs|Prostatakrebs]] bei alten Männern: Je nach Alter, Lebenserwartung und dem Entwicklungsstadium des Krebses ist oft das Nicht-Therapieren die beste Entscheidung.
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Auf dieser evidenzbasierten individuellen Entscheidung für den einzelnen Patienten (engl. ''Evidence-based individual decision'', EBID) aufbauend, wird die Bezeichnung EbM auch in der sogenannten evidenzbasierten Gesundheitsversorgung (engl. ''Evidence-Based Health Care'' – EbHC) verwendet. Hierbei werden die Prinzipien der EbM auf organisatorische und institutionelle Ebene übertragen, das heißt, eine Behandlungsempfehlung wird nicht für einzelne Kranke, sondern für eine Gruppe von Kranken oder für eine ganze Bevölkerung ermittelt; aus den Ergebnissen der Forschung werden Behandlungsempfehlungen, [[Medizinische Leitlinie|Leitlinien]], Richtlinien oder Regulierungen abgeleitet. EbHC kann in allen Bereichen der Gesundheitsversorgung angewendet werden; auf ihren Ergebnissen können auch Entscheidungen zur Steuerung des Gesundheitssystems basieren.<ref name="Jama" /><ref name="Eddy">D. M. Eddy: ''Evidence-based medicine: a unified approach.'' In: ''Health Aff (Millwood).'' 24(1), Jan-Feb 2005, S. 9–17. PMID 15647211</ref>
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Auf dieser evidenzbasierten individuellen Entscheidung für den einzelnen Patienten (engl. ''Evidence-based individual decision'', EBID) aufbauend, wird die Bezeichnung EbM auch in der sogenannten evidenzbasierten Gesundheitsversorgung (engl. ''Evidence-Based Health Care'' – EbHC) verwendet. Hierbei werden die Prinzipien der EbM auf organisatorische und institutionelle Ebene übertragen, das heißt, eine Behandlungsempfehlung wird nicht für einzelne Kranke, sondern für eine Gruppe von Kranken oder für eine ganze Bevölkerung ermittelt; aus den Ergebnissen der Forschung werden Behandlungsempfehlungen, [[Wikipedia:Medizinische Leitlinie|Leitlinien]], Richtlinien oder Regulierungen abgeleitet. EbHC kann in allen Bereichen der Gesundheitsversorgung angewendet werden; auf ihren Ergebnissen können auch Entscheidungen zur Steuerung des Gesundheitssystems basieren.<ref name="Jama" /><ref name="Eddy">D. M. Eddy: ''Evidence-based medicine: a unified approach.'' In: ''Health Aff (Millwood).'' 24(1), Jan-Feb 2005, S. 9–17. PMID 15647211</ref>
    
Für den Bereich der Zahnheilkunde wurde – in Analogie zur EbM – der Begriff „Evidenzbasierte Zahnmedizin“ (EbZ) etabliert.<ref>Jens C. Türp, Gerd Antes: [https://www.swissdentaljournal.org/fileadmin/upload_sso/2_Zahnaerzte/2_SDJ/SMfZ_2001/SMfZ_07_2001/smfz-01-07-fortbildung1.pdf ''Evidenzbasierte Zahnmedizin.''] In: ''Schweiz Monatsschr Zahnmed'' 111(7), 2001, S. 863–870.</ref><ref>Ralf Vollmuth, Dominik Groß: [https://www.online-dzz.de/archiv/ausgabe/dzz-5-2017/ ''Zwischen Gütesiegel und Scheinargument: der Diskurs um die Evidenzbasierte Zahnmedizin am Beispiel der Professionellen Zahnreinigung.''] In: ''Dtsch Zahnaerztl Zeitschrift'' 72(7), 2017, S. 382–388.</ref>
 
Für den Bereich der Zahnheilkunde wurde – in Analogie zur EbM – der Begriff „Evidenzbasierte Zahnmedizin“ (EbZ) etabliert.<ref>Jens C. Türp, Gerd Antes: [https://www.swissdentaljournal.org/fileadmin/upload_sso/2_Zahnaerzte/2_SDJ/SMfZ_2001/SMfZ_07_2001/smfz-01-07-fortbildung1.pdf ''Evidenzbasierte Zahnmedizin.''] In: ''Schweiz Monatsschr Zahnmed'' 111(7), 2001, S. 863–870.</ref><ref>Ralf Vollmuth, Dominik Groß: [https://www.online-dzz.de/archiv/ausgabe/dzz-5-2017/ ''Zwischen Gütesiegel und Scheinargument: der Diskurs um die Evidenzbasierte Zahnmedizin am Beispiel der Professionellen Zahnreinigung.''] In: ''Dtsch Zahnaerztl Zeitschrift'' 72(7), 2017, S. 382–388.</ref>
    
== Methode ==
 
== Methode ==
Evidenzbasierte Medizin fordert vom Arzt nicht nur klinische [[Expertise]] (das heißt Fachwissen am Krankenbett), sondern auch das Wissen, wie er sich die Ergebnisse aktueller wissenschaftlicher Forschung aneignet, wie er sie interpretiert und anwendet. Fachwissen ist ebenso erforderlich in der Gesprächsführung mit dem Patienten, vor allem in der Besprechung möglicher Nutzen und Risiken der verschiedenen Diagnose- und Behandlungsmöglichkeiten. Angestrebt werden sollte eine [[informierte Einwilligung]].
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Evidenzbasierte Medizin fordert vom Arzt nicht nur klinische [[Wikipedia:Expertise|Expertise]] (das heißt Fachwissen am Krankenbett), sondern auch das Wissen, wie er sich die Ergebnisse aktueller wissenschaftlicher Forschung aneignet, wie er sie interpretiert und anwendet. Fachwissen ist ebenso erforderlich in der Gesprächsführung mit dem Patienten, vor allem in der Besprechung möglicher Nutzen und Risiken der verschiedenen Diagnose- und Behandlungsmöglichkeiten. Angestrebt werden sollte eine [[Wikipedia:informierte Einwilligung|informierte Einwilligung]].
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Die Umsetzung der EbM in die Praxis bedeutet die Integration individueller klinischer Expertise mit der bestmöglichen externen Evidenz aus systematischer Forschung in einem mehrstufigen Prozess. Dabei wird aus dem klinischen Fall eine relevante, beantwortbare Frage abgeleitet. Anhand dieser Frage erfolgt die Recherche in der medizinischen Literatur. Die recherchierte Literatur muss nun kritisch bezüglich ihrer [[Validität]] und Brauchbarkeit bewertet werden (Evidenz). Es folgt die Anwendung der ausgewählten und bewerteten Evidenz beim individuellen Fall.
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Die Umsetzung der EbM in die Praxis bedeutet die Integration individueller klinischer Expertise mit der bestmöglichen externen Evidenz aus systematischer Forschung in einem mehrstufigen Prozess. Dabei wird aus dem klinischen Fall eine relevante, beantwortbare Frage abgeleitet. Anhand dieser Frage erfolgt die Recherche in der medizinischen Literatur. Die recherchierte Literatur muss nun kritisch bezüglich ihrer [[Wikipedia:Validität|Validität]] und Brauchbarkeit bewertet werden (Evidenz). Es folgt die Anwendung der ausgewählten und bewerteten Evidenz beim individuellen Fall.
    
Alle diese Schritte bedürfen der Übung, insbesondere die Literaturrecherche und ihre Bewertung. Da sich jedoch das gesamte medizinische Wissen derzeit alle fünf Jahre verdoppelt,<ref>G. T. W. Dietzel: ''Von eEurope 2002 zur elektronischen Gesundheitskarte: Chancen für das Gesundheitswesen.'' In: ''Deutsches Ärzteblatt.'' 99, 2002, S. A 1417 [http://www.aerzteblatt.de/pdf/99/21/a1417.pdf aerzteblatt.de]</ref> ist auch der geübte Arzt zunehmend überfordert, das für ihn Bedeutende in der Fülle des be- und entstehenden Wissens zu bestimmen. Abhilfe versuchen hier EbM-orientierte Organisationen, die mittels systematischer Evidenzrecherche und -bewertung zu relevanten, oft fachspezifischen Fragen Lösungen suchen, um so die Zugänglichkeit der Ergebnisse aus der klinischen Forschung in den praktischen Alltag transparenter und einfacher zu machen.
 
Alle diese Schritte bedürfen der Übung, insbesondere die Literaturrecherche und ihre Bewertung. Da sich jedoch das gesamte medizinische Wissen derzeit alle fünf Jahre verdoppelt,<ref>G. T. W. Dietzel: ''Von eEurope 2002 zur elektronischen Gesundheitskarte: Chancen für das Gesundheitswesen.'' In: ''Deutsches Ärzteblatt.'' 99, 2002, S. A 1417 [http://www.aerzteblatt.de/pdf/99/21/a1417.pdf aerzteblatt.de]</ref> ist auch der geübte Arzt zunehmend überfordert, das für ihn Bedeutende in der Fülle des be- und entstehenden Wissens zu bestimmen. Abhilfe versuchen hier EbM-orientierte Organisationen, die mittels systematischer Evidenzrecherche und -bewertung zu relevanten, oft fachspezifischen Fragen Lösungen suchen, um so die Zugänglichkeit der Ergebnisse aus der klinischen Forschung in den praktischen Alltag transparenter und einfacher zu machen.
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Statt wie im klassischen Ansatz der EbM Rückgriff auf die Originalartikel (die Primärliteratur) zu nehmen, werden hier vom Arzt Sekundärliteratur und systematische Übersichtsarbeiten herangezogen, bei denen die Wertung nach EbM-Kriterien bereits getroffen wurde. Ziel ist hier die Synthese aller relevanten Artikel aus der Primärliteratur, damit die Suche für den praktischen Alltag möglichst zeitsparend und spezifisch erfolgen kann. Diese Übersichtsarbeiten bilden auch die Basis für sogenannte [[Health Technology Assessment]]s (HTA, zu Deutsch: [[Technikfolgenabschätzung]] in der Medizin) und für evidenzbasierte [[Medizinische Leitlinie|Leitlinien]]. Eine der bedeutendsten Organisationen zur Erstellung solcher [[Systematische Übersichtsarbeit|systematischen Übersichtsarbeiten]] ist die [[Cochrane Collaboration]].
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Statt wie im klassischen Ansatz der EbM Rückgriff auf die Originalartikel (die Primärliteratur) zu nehmen, werden hier vom Arzt Sekundärliteratur und systematische Übersichtsarbeiten herangezogen, bei denen die Wertung nach EbM-Kriterien bereits getroffen wurde. Ziel ist hier die Synthese aller relevanten Artikel aus der Primärliteratur, damit die Suche für den praktischen Alltag möglichst zeitsparend und spezifisch erfolgen kann. Diese Übersichtsarbeiten bilden auch die Basis für sogenannte [[Wikipedia:Health Technology Assessment|Health Technology Assessment]]s (HTA, zu Deutsch: [[Wikipedia:Technikfolgenabschätzung|Technikfolgenabschätzung]] in der Medizin) und für evidenzbasierte [[Wikipedia:Medizinische Leitlinie|Leitlinien]]. Eine der bedeutendsten Organisationen zur Erstellung solcher [[Wikipedia:Systematische Übersichtsarbeit|systematischen Übersichtsarbeiten]] ist die [[Wikipedia:Cochrane Collaboration|Cochrane Collaboration]].
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EbM ist eine [[wissenschaft]]liche Methode, um die Qualität der veröffentlichten medizinischen Daten zu bewerten und damit auch zu verbessern. Die EbM beschäftigt sich nicht selbst mit der Durchführung von klinischen Studien, sondern mit der systematischen Nutzung ihrer Ergebnisse. Um von der Evidenz zur Empfehlung zu gelangen, wurden – EbM-Kriterien folgend – unterschiedliche Klassifikationssysteme erarbeitet. Dabei wird die externe Evidenz nach Validitätskriterien in [[Evidenzklasse]]n hierarchisch geordnet, die neben der Qualität der Einzelstudien die Gesamtheit der Evidenz zu einer Frage umfassen. Andere Klassifikationssysteme erweiterten die Evidenzhierarchie auf die Erfordernisse unterschiedlicher Fragestellungen, die Berücksichtigung von Schwächen in der Ausführung einzelner Studien und Inkonsistenzen zwischen mehreren Studien, beispielsweise das Klassifikationssystem des Centre for Evidence-based Medicine in Oxford.<ref>[http://www.cebm.net/index.aspx?o=1025 Oxford Centre for Evidence-based Medicine – Levels of Evidence]</ref> Zur Beurteilung der Qualität von [[Klinische Studie|klinischen Studien]] können Qualitätsmessinstrumente wie etwa die [[Jadad-Skala]] verwendet werden. Sie prüfen die formale Qualität der Durchführung einer Studie, nicht die Ergebnisse selber – allerdings lassen sich aus der Studienqualität Rückschlüsse auf die Qualität der Ergebnisse ziehen.<ref name="kuhlen">R. Kuhlen, R. Rossaint: ''Evidenzbasierte Medizin in Anästhesie und Intensivmedizin.'' Springer Verlag, 2005, ISBN 3-540-20042-8.</ref>
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EbM ist eine [[wissenschaft]]liche Methode, um die Qualität der veröffentlichten medizinischen Daten zu bewerten und damit auch zu verbessern. Die EbM beschäftigt sich nicht selbst mit der Durchführung von klinischen Studien, sondern mit der systematischen Nutzung ihrer Ergebnisse. Um von der Evidenz zur Empfehlung zu gelangen, wurden – EbM-Kriterien folgend – unterschiedliche Klassifikationssysteme erarbeitet. Dabei wird die externe Evidenz nach Validitätskriterien in [[Wikipedia:Evidenzklasse|Evidenzklasse]]n hierarchisch geordnet, die neben der Qualität der Einzelstudien die Gesamtheit der Evidenz zu einer Frage umfassen. Andere Klassifikationssysteme erweiterten die Evidenzhierarchie auf die Erfordernisse unterschiedlicher Fragestellungen, die Berücksichtigung von Schwächen in der Ausführung einzelner Studien und Inkonsistenzen zwischen mehreren Studien, beispielsweise das Klassifikationssystem des Centre for Evidence-based Medicine in Oxford.<ref>[http://www.cebm.net/index.aspx?o=1025 Oxford Centre for Evidence-based Medicine – Levels of Evidence]</ref> Zur Beurteilung der Qualität von [[Klinische Studie|klinischen Studien]] können Qualitätsmessinstrumente wie etwa die [[Wikipedia:Jadad-Skala|Jadad-Skala]] verwendet werden. Sie prüfen die formale Qualität der Durchführung einer Studie, nicht die Ergebnisse selber – allerdings lassen sich aus der Studienqualität Rückschlüsse auf die Qualität der Ergebnisse ziehen.<ref name="kuhlen">R. Kuhlen, R. Rossaint: ''Evidenzbasierte Medizin in Anästhesie und Intensivmedizin.'' Springer Verlag, 2005, ISBN 3-540-20042-8.</ref>
    
Die Einteilung in Klassifikationssysteme ist wichtig, um den Nutzen und die Risiken von Behandlungen angemessen beurteilen zu können (inklusive Nutzen und Risiken der Nicht-Behandlung).<ref name="PMID15338074">A. S. Elstein: ''On the origins and development of evidence-based medicine and medical decision making.'' In: ''Inflammation research : official journal of the European Histamine Research Society ... [et al.].'' Band 53 Suppl 2, August 2004, S.&nbsp;S184–S189, {{ISSN|1023-3830}}. [[doi:10.1007/s00011-004-0357-2]]. PMID 15338074.</ref>
 
Die Einteilung in Klassifikationssysteme ist wichtig, um den Nutzen und die Risiken von Behandlungen angemessen beurteilen zu können (inklusive Nutzen und Risiken der Nicht-Behandlung).<ref name="PMID15338074">A. S. Elstein: ''On the origins and development of evidence-based medicine and medical decision making.'' In: ''Inflammation research : official journal of the European Histamine Research Society ... [et al.].'' Band 53 Suppl 2, August 2004, S.&nbsp;S184–S189, {{ISSN|1023-3830}}. [[doi:10.1007/s00011-004-0357-2]]. PMID 15338074.</ref>
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== Geschichte ==
 
== Geschichte ==
Die Idee der Evidenzbasierten Medizin lässt sich auf das in der zweiten Hälfte des im 18.&nbsp;Jahrhundert von britischen Ärzten entwickelte Konzept der ''{{lang|en|medical arithmetic}}'' zurückführen.<ref>William Black: ''{{lang|en|Arithmetic and Medical Analysis of the Diseases and Mortality of the Human Species}}.'' London 1789.</ref> Erstmals findet sich die Bezeichnung in dem 1793 publizierten Artikel ''{{lang|en|An Attempt to Improve the Evidence of Medicine}}'' des schottischen Arztes [[George Fordyce]].<ref>Zitiert bei U. Tröhler: ''{{lang|en|To Improve the Evidence of Medicine. The 18th Century British Origins of a Critical Approach}}.'' [[Royal College of Physicians of Edinburgh]], Edinburgh.</ref>
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Die Idee der Evidenzbasierten Medizin lässt sich auf das in der zweiten Hälfte des im 18.&nbsp;Jahrhundert von britischen Ärzten entwickelte Konzept der ''{{lang|en|medical arithmetic}}'' zurückführen.<ref>William Black: ''{{lang|en|Arithmetic and Medical Analysis of the Diseases and Mortality of the Human Species}}.'' London 1789.</ref> Erstmals findet sich die Bezeichnung in dem 1793 publizierten Artikel ''{{lang|en|An Attempt to Improve the Evidence of Medicine}}'' des schottischen Arztes [[Wikipedia:George Fordyce|George Fordyce]].<ref>Zitiert bei U. Tröhler: ''{{lang|en|To Improve the Evidence of Medicine. The 18th Century British Origins of a Critical Approach}}.'' [[Wikipedia:Royal College of Physicians of Edinburgh|Royal College of Physicians of Edinburgh]], Edinburgh.</ref>
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In Großbritannien wurde eine der ersten kontrollierten klinischen Studien durchgeführt. Schon 1753 veröffentlichte [[James Lind]] die Ergebnisse seines Versuchs, [[Skorbut]] mit Orangen und Zitronen zu behandeln. Im deutschsprachigen Bereich kommt dem in Wien tätigen ungarischen Arzt [[Ignaz Semmelweis]] (1818–1865) die Erstautorschaft für die Einführung der „systematischen klinischen Beobachtung“ in die medizinische Forschung zu (1848).
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In Großbritannien wurde eine der ersten kontrollierten klinischen Studien durchgeführt. Schon 1753 veröffentlichte [[Wikipedia:James Lind|James Lind]] die Ergebnisse seines Versuchs, [[Wikipedia:Skorbut|Skorbut]] mit Orangen und Zitronen zu behandeln. Im deutschsprachigen Bereich kommt dem in Wien tätigen ungarischen Arzt [[Wikipedia:Ignaz Semmelweis|Ignaz Semmelweis]] (1818–1865) die Erstautorschaft für die Einführung der „systematischen klinischen Beobachtung“ in die medizinische Forschung zu (1848).
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Die Gründung der modernen EbM geht auf die Arbeitsgruppe um [[David Sackett]] im Department of Clinical Epidemiology and Biostatistics an der [[McMaster University]] in Hamilton, Kanada, zurück, wo David Sackett seit 1968 als Gründungsdirektor der Abteilung lehrte. Das 1967 erschienene Werk ''{{lang|en|Clinical Judgement}}'' des amerikanischen Mediziners und Mathematikers [[Alvan R. Feinstein]] sowie das 1972 erschienene Buch ''{{lang|en|Effectiveness and Efficiency: Random Reflections on Health Services}}'' des britischen [[Epidemiologie|Epidemiologen]] Professor [[Archie Cochrane]] führten zu einer zunehmenden Akzeptanz klinischer Epidemiologie und kontrollierter Studien während der 70er und 80er Jahre und ebneten so den Weg für die institutionelle Entwicklung der EbM in den 90er Jahren. Cochranes Bemühungen wurden dadurch gewürdigt, dass ein internationales Netzwerk zur Wirksamkeitsbewertung in der Medizin&nbsp;– die [[Cochrane Collaboration]]&nbsp;– nach ihm benannt wurde. Cochrane selbst erlebte jedoch die Gründung der EbM-Bewegung nicht mehr und Feinstein entwickelte sich zu einem ihrer schärfsten methodologischen Kritiker.<ref name="Weßling">Heinrich Weßling: ''Theorie der klinischen Evidenz – Versuch einer Kritik der evidenzbasierten Medizin.'' Lit, Wien 2011, ISBN 978-3-643-90065-4, S. 33–65.</ref>
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Die Gründung der modernen EbM geht auf die Arbeitsgruppe um [[Wikipedia:David Sackett|David Sackett]] im Department of Clinical Epidemiology and Biostatistics an der [[Wikipedia:McMaster University|McMaster University]] in Hamilton, Kanada, zurück, wo David Sackett seit 1968 als Gründungsdirektor der Abteilung lehrte. Das 1967 erschienene Werk ''{{lang|en|Clinical Judgement}}'' des amerikanischen Mediziners und Mathematikers [[Wikipedia:Alvan R. Feinstein|Alvan R. Feinstein]] sowie das 1972 erschienene Buch ''{{lang|en|Effectiveness and Efficiency: Random Reflections on Health Services}}'' des britischen [[Epidemiologie|Epidemiologen]] Professor [[Wikipedia:Archie Cochrane|Archie Cochrane]] führten zu einer zunehmenden Akzeptanz klinischer Epidemiologie und kontrollierter Studien während der 70er und 80er Jahre und ebneten so den Weg für die institutionelle Entwicklung der EbM in den 90er Jahren. Cochranes Bemühungen wurden dadurch gewürdigt, dass ein internationales Netzwerk zur Wirksamkeitsbewertung in der Medizin&nbsp;– die [[Wikipedia:Cochrane Collaboration|Cochrane Collaboration]]&nbsp;– nach ihm benannt wurde. Cochrane selbst erlebte jedoch die Gründung der EbM-Bewegung nicht mehr und Feinstein entwickelte sich zu einem ihrer schärfsten methodologischen Kritiker.<ref name="Weßling">Heinrich Weßling: ''Theorie der klinischen Evidenz – Versuch einer Kritik der evidenzbasierten Medizin.'' Lit, Wien 2011, ISBN 978-3-643-90065-4, S. 33–65.</ref>
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Die Einführung der Evidenzbasierten Medizin in die [[Chirurgie]] war auch ein Akt der Emanzipation von hierarchischen Strukturen.<ref>Felicitas Witte: ''Evidenz statt Eminenz.'' In: [[Hubert Steinke]], Eberhard Wolff, Ralph Alexander Schmid (Hrsg.): ''Schnitte, Knoten und Netze. 100 Jahre Schweizerische Gesellschaft für Chirurgie.'' Chronos, Zürich 2013, ISBN 978-3-0340-1167-9, S. 165–169.</ref>
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Die Einführung der Evidenzbasierten Medizin in die [[Wikipedia:Chirurgie|Chirurgie]] war auch ein Akt der Emanzipation von hierarchischen Strukturen.<ref>Felicitas Witte: ''Evidenz statt Eminenz.'' In: [[Wikipedia:Hubert Steinke|Hubert Steinke]], Eberhard Wolff, Ralph Alexander Schmid (Hrsg.): ''Schnitte, Knoten und Netze. 100 Jahre Schweizerische Gesellschaft für Chirurgie.'' Chronos, Zürich 2013, ISBN 978-3-0340-1167-9, S. 165–169.</ref>
    
== Lehre ==
 
== Lehre ==
Die Verbreitung der EbM ist im deutschsprachigen Bereich maßgeblich durch die Institutionalisierung des [[Deutsches Netzwerk Evidenzbasierte Medizin|Deutschen Netzwerks Evidenzbasierte Medizin]] (DNEbM e.&nbsp;V.) befördert worden. Ziele dieser [[Fachgesellschaft]] sind die Weiterentwicklung und Verbreitung von Theorie und Praxis der Evidenzbasierten Medizin.
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Die Verbreitung der EbM ist im deutschsprachigen Bereich maßgeblich durch die Institutionalisierung des [[Wikipedia:Deutsches Netzwerk Evidenzbasierte Medizin|Deutschen Netzwerks Evidenzbasierte Medizin]] (DNEbM e.&nbsp;V.) befördert worden. Ziele dieser [[Wikipedia:Fachgesellschaft|Fachgesellschaft]] sind die Weiterentwicklung und Verbreitung von Theorie und Praxis der Evidenzbasierten Medizin.
    
EbM wird auch in vielen Universitäten gelehrt. Die Umsetzung dieser Lehre von der Theorie in die Praxis ist jedoch noch umstritten. So ist inzwischen bekannt, dass praktische Kurse (Vorführen von EbM-Recherchen und das praktische Anwenden von EbM bei individuellen Patienten) zu besseren Lehrergebnissen führen würden.<ref>A. Coomarasamy, K. S. Khan: ''{{lang|en|What is the evidence that postgraduate teaching in evidence based medicine changes anything? A systematic review.}}'' In: ''BMJ.'' 329(7473), 30. Okt 2004, S. 1017. Review. PMID 15514348</ref>
 
EbM wird auch in vielen Universitäten gelehrt. Die Umsetzung dieser Lehre von der Theorie in die Praxis ist jedoch noch umstritten. So ist inzwischen bekannt, dass praktische Kurse (Vorführen von EbM-Recherchen und das praktische Anwenden von EbM bei individuellen Patienten) zu besseren Lehrergebnissen führen würden.<ref>A. Coomarasamy, K. S. Khan: ''{{lang|en|What is the evidence that postgraduate teaching in evidence based medicine changes anything? A systematic review.}}'' In: ''BMJ.'' 329(7473), 30. Okt 2004, S. 1017. Review. PMID 15514348</ref>
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== Gegenpositionen ==
 
== Gegenpositionen ==
 
Als Kritik an der ''Evidenzbasierten Medizin'' werden aufgeführt:
 
Als Kritik an der ''Evidenzbasierten Medizin'' werden aufgeführt:
# Die Evidenzbasierte Medizin stellt die Bedeutung [[Randomisierte, kontrollierte Studie|randomisierter, kontrollierter Studien]] (RCTs) heraus, die zuverlässige Schlüsse auf Kausalzusammenhänge erlauben.<ref name="PMID10884949">R. J. Little, D. B. Rubin: ''Causal effects in clinical and epidemiological studies via potential outcomes: concepts and analytical approaches.'' In: ''Annu Rev Public Health.'' Band 21, 2000, S.&nbsp;121–145, {{ISSN|0163-7525}}. [[doi:10.1146/annurev.publhealth.21.1.121]]. PMID 10884949. (Review).</ref> [[Kausalität]]en können jedoch lange ungeklärt bleiben, wenn Evidenznachweise noch nicht vorliegen.
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# Die Evidenzbasierte Medizin stellt die Bedeutung [[Wikipedia:Randomisierte, kontrollierte Studie|randomisierter, kontrollierter Studien]] (RCTs) heraus, die zuverlässige Schlüsse auf Kausalzusammenhänge erlauben.<ref name="PMID10884949">R. J. Little, D. B. Rubin: ''Causal effects in clinical and epidemiological studies via potential outcomes: concepts and analytical approaches.'' In: ''Annu Rev Public Health.'' Band 21, 2000, S.&nbsp;121–145, {{ISSN|0163-7525}}. [[doi:10.1146/annurev.publhealth.21.1.121]]. PMID 10884949. (Review).</ref> [[Wikipedia:Kausalität|Kausalität]]en können jedoch lange ungeklärt bleiben, wenn Evidenznachweise noch nicht vorliegen.
# In Beobachtungsstudien und anderen Forschungsdesigns – teilweise der einzige Weg, um Sachverhalte überhaupt oder mit ausreichend [[Externe Validität|externer Validität]] zu untersuchen – werden oft [[Korrelation]]en verwendet, manchmal auch gesicherte Zusammenhänge. Um daraus Evidenz abzuleiten, bedarf es hinreichender statistischer Sicherheit. Diese werde nach Ansicht von Kritikern häufig formal nicht erreicht.
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# In Beobachtungsstudien und anderen Forschungsdesigns – teilweise der einzige Weg, um Sachverhalte überhaupt oder mit ausreichend [[Wikipedia:Externe Validität|externer Validität]] zu untersuchen – werden oft [[Wikipedia:Korrelation|Korrelation]]en verwendet, manchmal auch gesicherte Zusammenhänge. Um daraus Evidenz abzuleiten, bedarf es hinreichender statistischer Sicherheit. Diese werde nach Ansicht von Kritikern häufig formal nicht erreicht.
# [[Metaanalyse]]n, die von Pharmafirmen gesponsert würden, seien oft falsch-positiv bewertet.<ref>V. Yank u. a.: [http://www.bmj.com/content/335/7631/1202 ''Financial ties and concordance between results and conclusions in meta-analyses: retrospective cohort study.''] In: ''BMJ.'' 335(7631), 8. Dez 2007, S. 1202–1205. Kurzdarstellung in Deutsch: ''Tendenzielle Bewertungen von Metaanalysen.'' In: ''Deutsches Ärzteblatt.'' 104, 2007, S. A 3290. [http://aerzteblatt.de/pdf/104/48/a3290.pdf (PDF)]</ref> Es bedürfe eines Ausweises der kritischen Analyse solcher Metastudien.
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# [[Wikipedia:Metaanalyse|Metaanalyse]]n, die von Pharmafirmen gesponsert würden, seien oft falsch-positiv bewertet.<ref>V. Yank u. a.: [http://www.bmj.com/content/335/7631/1202 ''Financial ties and concordance between results and conclusions in meta-analyses: retrospective cohort study.''] In: ''BMJ.'' 335(7631), 8. Dez 2007, S. 1202–1205. Kurzdarstellung in Deutsch: ''Tendenzielle Bewertungen von Metaanalysen.'' In: ''Deutsches Ärzteblatt.'' 104, 2007, S. A 3290. [http://aerzteblatt.de/pdf/104/48/a3290.pdf (PDF)]</ref> Es bedürfe eines Ausweises der kritischen Analyse solcher Metastudien.
# Mit methodologischen Erwägungen – insbesondere dem Problem der [[Heterogenität]] der Untersuchungsgegenstände – begründet [[Alvan R. Feinstein]] seine Kritik an der Technik der Metaanalyse als Quelle klinischer Evidenz.<ref>H. Weßling: ''Theorie der klinischen Evidenz. Versuch einer Kritik der Evidenzbasierten Medizin.'' Lit-Verlag, 2012, ISBN 978-3-643-90065-4, S. 138–147.</ref>
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# Mit methodologischen Erwägungen – insbesondere dem Problem der [[Wikipedia:Heterogenität|Heterogenität]] der Untersuchungsgegenstände – begründet [[Wikipedia:Alvan R. Feinstein|Alvan R. Feinstein]] seine Kritik an der Technik der Metaanalyse als Quelle klinischer Evidenz.<ref>H. Weßling: ''Theorie der klinischen Evidenz. Versuch einer Kritik der Evidenzbasierten Medizin.'' Lit-Verlag, 2012, ISBN 978-3-643-90065-4, S. 138–147.</ref>
# Der [[Publikationsbias]] trägt dazu bei, dass Studien, bei denen negative Effekte erzielt werden, seltener veröffentlicht werden. Deshalb erzielen auch [[Metaanalyse]]n, die nicht von Pharmafirmen gesponsert werden, oft falsch-positive Bewertungen.<ref name="PMID18199864">E. H. Turner, A. M. Matthews, E. Linardatos, R. A. Tell, R. Rosenthal: ''Selective publication of antidepressant trials and its influence on apparent efficacy.'' In: ''N. Engl. J. Med.'' Band 358, Nummer 3, Januar 2008, S.&nbsp;252–260, {{ISSN|1533-4406}}. [[doi:10.1056/NEJMsa065779]]. PMID 18199864.</ref>
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# Der [[Wikipedia:Publikationsbias|Publikationsbias]] trägt dazu bei, dass Studien, bei denen negative Effekte erzielt werden, seltener veröffentlicht werden. Deshalb erzielen auch [[Wikipedia:Metaanalyse|Metaanalyse]]n, die nicht von Pharmafirmen gesponsert werden, oft falsch-positive Bewertungen.<ref name="PMID18199864">E. H. Turner, A. M. Matthews, E. Linardatos, R. A. Tell, R. Rosenthal: ''Selective publication of antidepressant trials and its influence on apparent efficacy.'' In: ''N. Engl. J. Med.'' Band 358, Nummer 3, Januar 2008, S.&nbsp;252–260, {{ISSN|1533-4406}}. [[doi:10.1056/NEJMsa065779]]. PMID 18199864.</ref>
# Kritisiert wird die ideologische Überhöhung.<ref>P. v. Wichert: ''Evidenzbasierte Medizin (EbM): Begriff entideologisieren.'' In: ''Deutsches Ärzteblatt.'' 102(22), 2005, S. A-1569. [http://www.aerzteblatt.de/pdf/102/22/a1569.pdf (PDF)]</ref><ref>Arzneikommission der Deutschen Ärzteschaft (Hrsg.): ''Therapieempfehlungen: Evidenzbasierte Therapieleitlinien.'' 2.,&nbsp;überarbeitete u. erw. Auflage. Deutscher Ärzte Verlag, Köln 2004, ISBN 3-7691-0446-3.</ref> {{"|‚Evidenzbasierte Medizin‘, wenn sie richtig verstanden wird, beschreibt also etwas Selbstverständliches, nämlich die Berücksichtigung wissenschaftlicher Grundsätze in Diagnostik und Therapie. Der Begriff wird gegenwärtig nicht so gebraucht, sondern ihm wird eine unbegründete Sonderstellung gegeben.}} ([[Peter von Wichert|Wichert]], 2005, S.&nbsp;1569).
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# Kritisiert wird die ideologische Überhöhung.<ref>P. v. Wichert: ''Evidenzbasierte Medizin (EbM): Begriff entideologisieren.'' In: ''Deutsches Ärzteblatt.'' 102(22), 2005, S. A-1569. [http://www.aerzteblatt.de/pdf/102/22/a1569.pdf (PDF)]</ref><ref>Arzneikommission der Deutschen Ärzteschaft (Hrsg.): ''Therapieempfehlungen: Evidenzbasierte Therapieleitlinien.'' 2.,&nbsp;überarbeitete u. erw. Auflage. Deutscher Ärzte Verlag, Köln 2004, ISBN 3-7691-0446-3.</ref> {{"|‚Evidenzbasierte Medizin‘, wenn sie richtig verstanden wird, beschreibt also etwas Selbstverständliches, nämlich die Berücksichtigung wissenschaftlicher Grundsätze in Diagnostik und Therapie. Der Begriff wird gegenwärtig nicht so gebraucht, sondern ihm wird eine unbegründete Sonderstellung gegeben.}} ([[Wikipedia:Peter von Wichert|Wichert]], 2005, S.&nbsp;1569).
 
# Es wurde aus wissenschaftstheoretischer Sicht Kritik an dem der EbM zugrundeliegenden Evidenzkonzept geübt. Dieses sei dadurch problematisch, dass es keinen Raum biete für ein Element des „erklärenden Zusammenhangs“ (im Sinne Peter Achinsteins) zwischen der Evidenz und der zu beweisenden Hypothese. Ein solcher Zusammenhang wird postuliert, um logische Probleme probabilistischer Evidenzbegriffe zu umgehen.<ref>Heinrich Weßling: ''Theorie der klinischen Evidenz – Versuch einer Kritik der Evidenzbasierten Medizin.'' Lit Verlag, 2012, ISBN 978-3-643-90065-4, S.&nbsp;176&nbsp;ff.</ref>
 
# Es wurde aus wissenschaftstheoretischer Sicht Kritik an dem der EbM zugrundeliegenden Evidenzkonzept geübt. Dieses sei dadurch problematisch, dass es keinen Raum biete für ein Element des „erklärenden Zusammenhangs“ (im Sinne Peter Achinsteins) zwischen der Evidenz und der zu beweisenden Hypothese. Ein solcher Zusammenhang wird postuliert, um logische Probleme probabilistischer Evidenzbegriffe zu umgehen.<ref>Heinrich Weßling: ''Theorie der klinischen Evidenz – Versuch einer Kritik der Evidenzbasierten Medizin.'' Lit Verlag, 2012, ISBN 978-3-643-90065-4, S.&nbsp;176&nbsp;ff.</ref>
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Das Konzept der EbM kann in seiner Wirkung erheblich verzögert angewandt werden, wenn zu wenige Nachweise und Studien vorliegen. So ist beispielsweise in der [[Pädiatrie]] EbM nicht so fortgeschritten wie z.&nbsp;B. in der [[Onkologie]] und [[Kardiologie]]. Der Hauptgrund dafür ist, dass große kontrollierte klinische Studien in der Pädiatrie häufig nicht durchgeführt werden bzw. an sich schwer durchzuführen sind. Dadurch ist nicht hinreichend „evidence“ vorhanden, wie es für eine sichere Bewertung erforderlich wäre. Stattdessen muss man sich notgedrungen auf die „Evidenz“ verlassen (also das, was vor Augen ist)<ref name="PMID16714730">B. Phillips: ''Towards evidence based medicine for paediatricians.'' In: ''Arch. Dis. Child.'' Band 91, Nummer 6, Juni 2006, S.&nbsp;532, {{ISSN|1468-2044}}. PMID 16714730. {{PMC|2082773}}.</ref><ref name="PMID15210508">B. Phillips: ''Towards evidence based medicine for paediatricians.'' In: ''Arch. Dis. Child.'' Band 89, Nummer 7, Juli 2004, S.&nbsp;683–684, {{ISSN|1468-2044}}. [[doi:10.1136/adc.2004.055343]]. PMID 15210508. {{PMC|1719983}}</ref>. Diese Aussage trifft aber nicht für alle Bereiche der Pädiatrie zu, z.&nbsp;B. nicht für die pädiatrische Hämato-Onkologie.<ref>ALL-BFM-Studie zur Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit akuter lymphoblastischer Leukämie. Stand 11. Juli 2005  [http://www.uni-kiel.de/all-studie/All_intro.htm ALL BFM 2000-Studie] (abgerufen am 23. Oktober 2013)</ref>  
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Das Konzept der EbM kann in seiner Wirkung erheblich verzögert angewandt werden, wenn zu wenige Nachweise und Studien vorliegen. So ist beispielsweise in der [[Wikipedia:Pädiatrie|Pädiatrie]] EbM nicht so fortgeschritten wie z.&nbsp;B. in der [[Wikipedia:Onkologie|Onkologie]] und [[Wikipedia:Kardiologie|Kardiologie]]. Der Hauptgrund dafür ist, dass große kontrollierte klinische Studien in der Pädiatrie häufig nicht durchgeführt werden bzw. an sich schwer durchzuführen sind. Dadurch ist nicht hinreichend „evidence“ vorhanden, wie es für eine sichere Bewertung erforderlich wäre. Stattdessen muss man sich notgedrungen auf die „Evidenz“ verlassen (also das, was vor Augen ist)<ref name="PMID16714730">B. Phillips: ''Towards evidence based medicine for paediatricians.'' In: ''Arch. Dis. Child.'' Band 91, Nummer 6, Juni 2006, S.&nbsp;532, {{ISSN|1468-2044}}. PMID 16714730. {{PMC|2082773}}.</ref><ref name="PMID15210508">B. Phillips: ''Towards evidence based medicine for paediatricians.'' In: ''Arch. Dis. Child.'' Band 89, Nummer 7, Juli 2004, S.&nbsp;683–684, {{ISSN|1468-2044}}. [[doi:10.1136/adc.2004.055343]]. PMID 15210508. {{PMC|1719983}}</ref>. Diese Aussage trifft aber nicht für alle Bereiche der Pädiatrie zu, z.&nbsp;B. nicht für die pädiatrische Hämato-Onkologie.<ref>ALL-BFM-Studie zur Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit akuter lymphoblastischer Leukämie. Stand 11. Juli 2005  [http://www.uni-kiel.de/all-studie/All_intro.htm ALL BFM 2000-Studie] (abgerufen am 23. Oktober 2013)</ref>  
    
Hinsichtlich seiner persönlichen Entscheidung ist der einzelne Patient von den Informationen abhängig, die er zur Verfügung hat. Insbesondere bei akuten Behandlungsfällen ist jedoch wenig Zeit, um diese Informationen zu übermitteln, so dass eine Abhängigkeit des Patienten von dem behandelnden Arzt bleibt. Für den Patienten steht als Ausweichmöglichkeit nur der Wechsel des Arztes offen, wenn sonst keine Wahl unter verschiedenen Therapien angeboten wird. Die Kriterien der EbM sind daher nicht auf alle Bereiche der Medizin anwendbar.<ref>[http://www.researchgate.net/publication/273138797_Kriz_Jrgen_%282014%29_Wie_evident_ist_Evidenzbasierung_ber_ein_gutes_Konzept__und_seine_missbruchliche_Verwendung researchgate.net]</ref>
 
Hinsichtlich seiner persönlichen Entscheidung ist der einzelne Patient von den Informationen abhängig, die er zur Verfügung hat. Insbesondere bei akuten Behandlungsfällen ist jedoch wenig Zeit, um diese Informationen zu übermitteln, so dass eine Abhängigkeit des Patienten von dem behandelnden Arzt bleibt. Für den Patienten steht als Ausweichmöglichkeit nur der Wechsel des Arztes offen, wenn sonst keine Wahl unter verschiedenen Therapien angeboten wird. Die Kriterien der EbM sind daher nicht auf alle Bereiche der Medizin anwendbar.<ref>[http://www.researchgate.net/publication/273138797_Kriz_Jrgen_%282014%29_Wie_evident_ist_Evidenzbasierung_ber_ein_gutes_Konzept__und_seine_missbruchliche_Verwendung researchgate.net]</ref>
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Eine Gratwanderung kann auch eine zu enge Auslegung von EbM darstellen. So gibt es Sachverhalte, die seit langem und vollkommen geklärt sind, für die aber im Sinne der EbM keine ausreichenden Nachweise vorliegen. Als Beispiel zur Illustration mag dienen, dass die sogenannte Vipeholm-Studie<ref name="PMID13196991">B. E. Gustafsson, C. E. Quensel, L. S. Lanke, C. Lundquist, H. Grahnen, B. E. Bonow, B. Krasse: ''The Vipeholm dental caries study; the effect of different levels of carbohydrate intake on caries activity in 436 individuals observed for five years.'' In: ''Acta odontologica Scandinavica.'' Band 11, Nummer 3–4, September 1954, S.&nbsp;232–264, {{ISSN|0001-6357}}. PMID 13196991.</ref> von 1954 die erste und bisher zeitlich längste Untersuchung zur Verursachung der [[Karies]] durch Zucker war. Auch erfolgte zum Beispiel der Durchbruch der [[Ciclosporin]]-Behandlung in der Immunsuppression nach Organtransplantation so rapide, dass es nur relativ wenige Untersuchungen hoher Beweiskraft zum Vergleich mit dem vorher etablierten Schema ([[Cortison]] & [[Azathioprin]]) gibt. Bei einer hohen Eindeutigkeit von Ergebnissen (also hoher „Evidenz“ im Sinne der deutschen Wortbedeutung) verbieten sich weitere prospektive randomisierte Vergleichsstudien schon aus ethischen Gründen; die Tatsache, dass es zu einer Frage unzureichend belastbare „evidence“ gibt, darf daher nicht so interpretiert werden, dass diese negativ zu beantworten sei. Angeführt wird in diesem Zusammenhang auch, dass eine gute Beweisführung in vielen Bereichen der Medizin nicht durchführbar oder zu umständlich sei. Fast alle ärztlichen Handlungen, die komplett unstrittig sind (also deutsch „konsensbasiert“), seien nicht nachweisbasiert (also nicht „evidence based“) und würden es nie sein. Das Fehlen von bewiesenem Nutzen und Fehlen von Nutzen seien nicht das Gleiche.
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Eine Gratwanderung kann auch eine zu enge Auslegung von EbM darstellen. So gibt es Sachverhalte, die seit langem und vollkommen geklärt sind, für die aber im Sinne der EbM keine ausreichenden Nachweise vorliegen. Als Beispiel zur Illustration mag dienen, dass die sogenannte Vipeholm-Studie<ref name="PMID13196991">B. E. Gustafsson, C. E. Quensel, L. S. Lanke, C. Lundquist, H. Grahnen, B. E. Bonow, B. Krasse: ''The Vipeholm dental caries study; the effect of different levels of carbohydrate intake on caries activity in 436 individuals observed for five years.'' In: ''Acta odontologica Scandinavica.'' Band 11, Nummer 3–4, September 1954, S.&nbsp;232–264, {{ISSN|0001-6357}}. PMID 13196991.</ref> von 1954 die erste und bisher zeitlich längste Untersuchung zur Verursachung der [[Wikipedia:Karies|Karies]] durch Zucker war. Auch erfolgte zum Beispiel der Durchbruch der [[Wikipedia:Ciclosporin|Ciclosporin]]-Behandlung in der Immunsuppression nach Organtransplantation so rapide, dass es nur relativ wenige Untersuchungen hoher Beweiskraft zum Vergleich mit dem vorher etablierten Schema ([[Wikipedia:Cortison|Cortison]] & [[Wikipedia:Azathioprin|Azathioprin]]) gibt. Bei einer hohen Eindeutigkeit von Ergebnissen (also hoher „Evidenz“ im Sinne der deutschen Wortbedeutung) verbieten sich weitere prospektive randomisierte Vergleichsstudien schon aus ethischen Gründen; die Tatsache, dass es zu einer Frage unzureichend belastbare „evidence“ gibt, darf daher nicht so interpretiert werden, dass diese negativ zu beantworten sei. Angeführt wird in diesem Zusammenhang auch, dass eine gute Beweisführung in vielen Bereichen der Medizin nicht durchführbar oder zu umständlich sei. Fast alle ärztlichen Handlungen, die komplett unstrittig sind (also deutsch „konsensbasiert“), seien nicht nachweisbasiert (also nicht „evidence based“) und würden es nie sein. Das Fehlen von bewiesenem Nutzen und Fehlen von Nutzen seien nicht das Gleiche.
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Die Kehrseite einer ungesicherten Auslegung von EbM kann aber wiederum zur nicht konsequenten Anwendung führen. So kommt es auch vor, dass EbM in Bereichen der Medizin bzw. in Ländern, wo sie eigentlich weitgehend akzeptiert ist, in der Praxis nicht konsequent angewendet wird.<ref name="PMID15254008">S. L. Rahman, A. D. Kelion: ''Nuclear cardiology in the UK: do we apply evidence based medicine?'' In: ''[[Heart (Zeitschrift)|Heart]].'' Band 90 Suppl 5, August 2004, S.&nbsp;v37–v40. [[doi:10.1136/hrt.2002.005165]]. PMID 15254008. {{PMC|1876324}}.</ref>
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Die Kehrseite einer ungesicherten Auslegung von EbM kann aber wiederum zur nicht konsequenten Anwendung führen. So kommt es auch vor, dass EbM in Bereichen der Medizin bzw. in Ländern, wo sie eigentlich weitgehend akzeptiert ist, in der Praxis nicht konsequent angewendet wird.<ref name="PMID15254008">S. L. Rahman, A. D. Kelion: ''Nuclear cardiology in the UK: do we apply evidence based medicine?'' In: ''[[Wikipedia:Heart (Zeitschrift)|Heart]].'' Band 90 Suppl 5, August 2004, S.&nbsp;v37–v40. [[doi:10.1136/hrt.2002.005165]]. PMID 15254008. {{PMC|1876324}}.</ref>
    
== Andere Anwendungsgebiete ==
 
== Andere Anwendungsgebiete ==
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Inzwischen ist versucht worden, das Konzept der Evidenzbasierung auf andere Bereiche wie [[Psychotherapie]], [[Pädagogik]] und [[Wirtschaftsinformatik]] zu übertragen. Dazu gibt es ebenfalls eine kritische Diskussion.<ref>J. Bellmann, T. Müller (Hrsg.): ''Wissen, was wirkt. Kritik evidenzbasierter Pädagogik.'' VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2011.</ref><ref>H. Brügelmann: ''Vermessene Schulen – standardisierte Schüler. Zu Risiken und Nebenwirkungen von PISA, Hattie, VerA & Co.'' Beltz, Weinheim/ Basel 2015; K.-H. Dammer: ''Vermessene Bildungsforschung. Wissenschaftsgeschichtliche Hintergründe zu einem neoliberalen Herrschaftsinstrument.'' Schneider Hohengehren, Baltmannsweiler 2015.</ref><ref>Goeken, M. / Patas, J.: ''Evidenzbasierte Strukturierung und Bewertung empirischer Forschung im Requirements Engineering'', in: WIRTSCHAFTSINFORMATIK (2010) 52: 173–184. https://doi.org/10.1007/s11576-010-0223-5 </ref>
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Inzwischen ist versucht worden, das Konzept der Evidenzbasierung auf andere Bereiche wie [[Wikipedia:Psychotherapie|Psychotherapie]], [[Wikipedia:Pädagogik|Pädagogik]] und [[Wikipedia:Wirtschaftsinformatik|Wirtschaftsinformatik]] zu übertragen. Dazu gibt es ebenfalls eine kritische Diskussion.<ref>J. Bellmann, T. Müller (Hrsg.): ''Wissen, was wirkt. Kritik evidenzbasierter Pädagogik.'' VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2011.</ref><ref>H. Brügelmann: ''Vermessene Schulen – standardisierte Schüler. Zu Risiken und Nebenwirkungen von PISA, Hattie, VerA & Co.'' Beltz, Weinheim/ Basel 2015; K.-H. Dammer: ''Vermessene Bildungsforschung. Wissenschaftsgeschichtliche Hintergründe zu einem neoliberalen Herrschaftsinstrument.'' Schneider Hohengehren, Baltmannsweiler 2015.</ref><ref>Goeken, M. / Patas, J.: ''Evidenzbasierte Strukturierung und Bewertung empirischer Forschung im Requirements Engineering'', in: WIRTSCHAFTSINFORMATIK (2010) 52: 173–184. https://doi.org/10.1007/s11576-010-0223-5 </ref>
    
== Literatur ==
 
== Literatur ==
* G. Guyatt, J. Cairns, D. Churchill, u.&nbsp;a. („Evidence-Based Medicine Working Group“): ''Evidence-based Medicine. A New Approach to Teaching the Practice of Medicine.'' In: ''[[Journal of the American Medical Association]].'' 268, 1992, S. 2420–2425. PMID 1404801
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* G. Guyatt, J. Cairns, D. Churchill, u.&nbsp;a. („Evidence-Based Medicine Working Group“): ''Evidence-based Medicine. A New Approach to Teaching the Practice of Medicine.'' In: ''[[Wikipedia:Journal of the American Medical Association|Journal of the American Medical Association]].'' 268, 1992, S. 2420–2425. PMID 1404801
 
* G. H. Guyatt, D. Rennie: ''User’s Guides to the Medical Literature.'' In: ''Journal of the American Medical Association.'' 270, 1993, S. 2096–2097.
 
* G. H. Guyatt, D. Rennie: ''User’s Guides to the Medical Literature.'' In: ''Journal of the American Medical Association.'' 270, 1993, S. 2096–2097.
* R. Kunz, [[Günter Ollenschläger|G. Ollenschläger]], H. Raspe, G. Jonitz, N. Donner-Banzhoff (Hrsg.): ''Lehrbuch Evidenzbasierte Medizin in Klinik und Praxis.'' 2. Auflage. [[Deutscher Ärzte-Verlag]], Köln 2007, ISBN 978-3-7691-0538-4 (Die Grundlagen der ‚EbM‘ – erstmals Schritt für Schritt an Fallbeispielen aus der Versorgungspraxis im deutschsprachigen Raum).
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* R. Kunz, [[Wikipedia:Günter Ollenschläger|G. Ollenschläger]], H. Raspe, G. Jonitz, N. Donner-Banzhoff (Hrsg.): ''Lehrbuch Evidenzbasierte Medizin in Klinik und Praxis.'' 2. Auflage. [[Wikipedia:Deutscher Ärzte-Verlag|Deutscher Ärzte-Verlag]], Köln 2007, ISBN 978-3-7691-0538-4 (Die Grundlagen der ‚EbM‘ – erstmals Schritt für Schritt an Fallbeispielen aus der Versorgungspraxis im deutschsprachigen Raum).
* G. S. Kienle: ''Evidenzbasierte Medizin und ärztliche Therapiefreiheit.'' In: ''[[Deutsches Ärzteblatt]].'' Jg. 105, Heft 25, 20. Juni 2008, S. 1381–1384. [http://www.aerzteblatt.de/pdf/105/25/a1381.pdf (aerzteblatt.de)]
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* G. S. Kienle: ''Evidenzbasierte Medizin und ärztliche Therapiefreiheit.'' In: ''[[Wikipedia:Deutsches Ärzteblatt|Deutsches Ärzteblatt]].'' Jg. 105, Heft 25, 20. Juni 2008, S. 1381–1384. [http://www.aerzteblatt.de/pdf/105/25/a1381.pdf (aerzteblatt.de)]
* Heinrich Weßling: ''Theorie der klinischen Evidenz. Versuch einer Kritik der Evidenzbasierten Medizin.'' (= ''Naturwissenschaft – Philosophie – Geschichte''. Band 26). [[Lit Verlag]], Wien 2011, ISBN 978-3-643-90065-4 (Diss. Münster).
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* Heinrich Weßling: ''Theorie der klinischen Evidenz. Versuch einer Kritik der Evidenzbasierten Medizin.'' (= ''Naturwissenschaft – Philosophie – Geschichte''. Band 26). [[Wikipedia:Lit Verlag|Lit Verlag]], Wien 2011, ISBN 978-3-643-90065-4 (Diss. Münster).
* Definitionen und Instrumente des [[DNEbM|Deutschen Netzwerks Evidenzbasierte Medizin]]
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* Definitionen und Instrumente des [[Wikipedia:DNEbM|Deutschen Netzwerks Evidenzbasierte Medizin]]
    
== Siehe auch ==
 
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