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Die '''Neurologie''' (von {{grcS|νεῦρον|neuron|de=Nerv}}, und ''[[-logie]]'' ‚Lehre‘) ist die Wissenschaft und Lehre vom [[Nervensystem]], seinen Erkrankungen und deren medizinischer Behandlung. Sie stellt seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein eigenständiges Teilgebiet der [[Medizin]] dar. Die Grenzen zur [[Psychiatrie]] und zur [[Neurochirurgie]] sind dabei teilweise fließend.
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Die '''Neurologie''' (von {{grcS|νεῦρον|neuron|de=Nerv}}, und ''[[Wikipedia:-logie|-logie]]'' ‚Lehre‘) ist die Wissenschaft und Lehre vom [[Nervensystem]], seinen Erkrankungen und deren medizinischer Behandlung. Sie stellt seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein eigenständiges Teilgebiet der [[Medizin]] dar. Die Grenzen zur [[Wikipedia:Psychiatrie|Psychiatrie]] und zur [[Wikipedia:Neurochirurgie|Neurochirurgie]] sind dabei teilweise fließend.
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Die in der Neurologie wichtigsten Organsysteme sind das [[Zentralnervensystem]] (also [[Gehirn]] und [[Rückenmark]]), seine Umgebungsstrukturen und blutversorgenden Gefäße. Dazu kommt das [[Peripheres Nervensystem|periphere Nervensystem]] und die [[Muskulatur]], einschließlich der Verbindungsstrukturen zwischen beiden. In Deutschland ist die Neurologie um 1845 mit [[Moritz Heinrich Romberg]] als ein Teilgebiet aus der [[Innere Medizin|Inneren Medizin]] hervorgegangen. In den USA, in Großbritannien, Russland und anderen Staaten dagegen hatte sich die Neurologie gleich als eigenständiges Fach entwickelt.<ref>{{Literatur |Autor=Johannes Pantel |Titel=Neurologie, Psychiatrie und Innere Medizin. Verlauf und Dynamik eines historischen Streites |Sammelwerk=Würzburger medizinhistorische Mitteilungen |Band=11 |Datum=1993 |Seiten=77–99 |Fundstelle=hier: S. 77}}</ref>
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Die in der Neurologie wichtigsten Organsysteme sind das [[Wikipedia:Zentralnervensystem|Zentralnervensystem]] (also [[Gehirn]] und [[Wikipedia:Rückenmark|Rückenmark]]), seine Umgebungsstrukturen und blutversorgenden Gefäße. Dazu kommt das [[Wikipedia:Peripheres Nervensystem|periphere Nervensystem]] und die [[Wikipedia:Muskulatur|Muskulatur]], einschließlich der Verbindungsstrukturen zwischen beiden. In Deutschland ist die Neurologie um 1845 mit [[Wikipedia:Moritz Heinrich Romberg|Moritz Heinrich Romberg]] als ein Teilgebiet aus der [[Wikipedia:Innere Medizin|Inneren Medizin]] hervorgegangen. In den USA, in Großbritannien, Russland und anderen Staaten dagegen hatte sich die Neurologie gleich als eigenständiges Fach entwickelt.<ref>{{Literatur |Autor=Johannes Pantel |Titel=Neurologie, Psychiatrie und Innere Medizin. Verlauf und Dynamik eines historischen Streites |Sammelwerk=Würzburger medizinhistorische Mitteilungen |Band=11 |Datum=1993 |Seiten=77–99 |Fundstelle=hier: S. 77}}</ref>
    
== Die neurologischen Syndrome ==
 
== Die neurologischen Syndrome ==
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Ein [[Syndrom]] ist eine Gruppe von gleichzeitig auftretenden Krankheitszeichen. Es gibt in der Neurologie etwa ein Dutzend Syndromgruppen und in jeder Syndromgruppe zahlreiche Syndrome. Zu jedem Syndrom gehören verschiedene neurologische Krankheiten, die zudem völlig anders als die Syndrome gegliedert werden. Zunächst seien die verschiedenen Syndromgruppen genannt und kurz charakterisiert.
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Ein [[Wikipedia:Syndrom|Syndrom]] ist eine Gruppe von gleichzeitig auftretenden Krankheitszeichen. Es gibt in der Neurologie etwa ein Dutzend Syndromgruppen und in jeder Syndromgruppe zahlreiche Syndrome. Zu jedem Syndrom gehören verschiedene neurologische Krankheiten, die zudem völlig anders als die Syndrome gegliedert werden. Zunächst seien die verschiedenen Syndromgruppen genannt und kurz charakterisiert.
* Die ''Syndrome des peripheren Nervensystems'' gliedern die Syndrome, die Störungen der Nerven in ihrem Verlauf außerhalb des [[Wirbelkanal]]es betreffen. Es sind dies die meist traumatisch bedingten Läsionen peripherer Nerven, der Nervengeflechte ([[Plexus (Medizin)|Plexus]]), der [[Nervenwurzel]]n und des [[Grenzstrang]]s sowie die [[Polyneuropathie]]n.
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* Die ''Syndrome des peripheren Nervensystems'' gliedern die Syndrome, die Störungen der Nerven in ihrem Verlauf außerhalb des [[Wikipedia:Wirbelkanal|Wirbelkanal]]es betreffen. Es sind dies die meist traumatisch bedingten Läsionen peripherer Nerven, der Nervengeflechte ([[Wikipedia:Plexus (Medizin)|Plexus]]), der [[Wikipedia:Nervenwurzel|Nervenwurzel]]n und des [[Wikipedia:Grenzstrang|Grenzstrang]]s sowie die [[Wikipedia:Polyneuropathie|Polyneuropathie]]n.
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* Mit dem Begriff der ''zerebralen Syndrome'' werden zunächst die vier Gruppen ''hirnlokaler Syndrome'' zusammengefasst. Es handelt sich dabei um die [[Hemisphärensyndrom]]e, die [[Hirnstammsyndrom]]e, die [[Extrapyramidales Syndrom|extrapyramidalen Syndrome]] und die [[Kleinhirnsyndrom]]e. Diese Syndromgruppen lassen sich noch weiter untergliedern.
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* Mit dem Begriff der ''zerebralen Syndrome'' werden zunächst die vier Gruppen ''hirnlokaler Syndrome'' zusammengefasst. Es handelt sich dabei um die [[Wikipedia:Hemisphärensyndrom|Hemisphärensyndrom]]e, die [[Wikipedia:Hirnstammsyndrom|Hirnstammsyndrom]]e, die [[Wikipedia:Extrapyramidales Syndrom|extrapyramidalen Syndrome]] und die [[Wikipedia:Kleinhirnsyndrom|Kleinhirnsyndrom]]e. Diese Syndromgruppen lassen sich noch weiter untergliedern.
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* Unter dem Begriff [[Rückenmarkssyndrom]]e werden fünf verschiedene Syndromgruppen zusammengefasst: die kompletten [[Querschnittlähmung|Querschnittsyndrome]], das Halbseitensyndrom des Rückenmarkes, das zentrale Rückenmarksyndrom, das Syndrom der Hinterstränge und das Vorderhornsyndrom.
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* Unter dem Begriff [[Rückenmarkssyndrom]]e werden fünf verschiedene Syndromgruppen zusammengefasst: die kompletten [[Wikipedia:Querschnittlähmung|Querschnittsyndrome]], das Halbseitensyndrom des Rückenmarkes, das zentrale Rückenmarksyndrom, das Syndrom der Hinterstränge und das Vorderhornsyndrom.
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* Es gibt fünf verschiedene [[Neuroophthalmologisches Syndrom|Neuroophthalmologische Syndrome]]: Das Syndrom der Olfaktoriusrinne, des Keilbeinflügels, der Orbitaspitze, das [[Foster Kennedy-Syndrom]] und das [[Sinus-cavernosus-Syndrom]].
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* Es gibt fünf verschiedene [[Neuroophthalmologisches Syndrom|Neuroophthalmologische Syndrome]]: Das Syndrom der Olfaktoriusrinne, des Keilbeinflügels, der Orbitaspitze, das [[Wikipedia:Foster Kennedy-Syndrom|Foster Kennedy-Syndrom]] und das [[Wikipedia:Sinus-cavernosus-Syndrom|Sinus-cavernosus-Syndrom]].
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* Der [[Vertigo|Schwindel]] (''Vertigo'') wird zweifach unterteilt: die vestibulären und die nicht-vestibulären Formen.
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* Der [[Wikipedia:Vertigo|Schwindel]] (''Vertigo'') wird zweifach unterteilt: die vestibulären und die nicht-vestibulären Formen.
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* Es gibt drei verschiedene ''neurootologische Syndrome'': das [[Syndrom der Pyramidenspitze]], des [[Foramen jugulare]] und das [[Kleinhirnbrückenwinkelsyndrom]].
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* Es gibt drei verschiedene ''neurootologische Syndrome'': das [[Syndrom der Pyramidenspitze]], des [[Wikipedia:Foramen jugulare|Foramen jugulare]] und das [[Wikipedia:Kleinhirnbrückenwinkelsyndrom|Kleinhirnbrückenwinkelsyndrom]].
    
* Man unterscheidet zwei verschiedene Gruppen ''meningealer Syndrome'': die akuten und die chronischen meningealen Syndrome.
 
* Man unterscheidet zwei verschiedene Gruppen ''meningealer Syndrome'': die akuten und die chronischen meningealen Syndrome.
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* Es gibt drei verschiedene ''Hirndrucksyndrome'': die transfalxiale, die mesenzephale und die bulbäre Einklemmung. Ihr entsprechen die verschiedenen Formen der Bewusstseinsstörung in dem Abschnitt ''Neuropsychologische Syndrome''.
 
* Es gibt drei verschiedene ''Hirndrucksyndrome'': die transfalxiale, die mesenzephale und die bulbäre Einklemmung. Ihr entsprechen die verschiedenen Formen der Bewusstseinsstörung in dem Abschnitt ''Neuropsychologische Syndrome''.
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* Es gibt fünf verschiedene ''Kopfschmerztypen'', die man als Syndromgruppen auffassen kann: die gefäßbedingten anfallsartigen [[Kopfschmerzen]], die idiopathischen anfallsartigen Gesichts[[neuralgie]]n (siehe auch [[Atypischer Gesichtsschmerz]]), die diffusen Dauerkopfschmerzen mit akutem Beginn und die ebensolchen mit schleichendem Beginn sowie die lokalisierten Dauerkopfschmerzen.
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* Es gibt fünf verschiedene ''Kopfschmerztypen'', die man als Syndromgruppen auffassen kann: die gefäßbedingten anfallsartigen [[Wikipedia:Kopfschmerzen|Kopfschmerzen]], die idiopathischen anfallsartigen Gesichts[[Wikipedia:neuralgie|neuralgie]]n (siehe auch [[Wikipedia:Atypischer Gesichtsschmerz|Atypischer Gesichtsschmerz]]), die diffusen Dauerkopfschmerzen mit akutem Beginn und die ebensolchen mit schleichendem Beginn sowie die lokalisierten Dauerkopfschmerzen.
 
* Eine besondere Gruppe in der neurologischen Syndromlehre sind die vier verschiedenen ''Liquorsyndrome''.
 
* Eine besondere Gruppe in der neurologischen Syndromlehre sind die vier verschiedenen ''Liquorsyndrome''.
 
* Die ''vertebragenen Syndrome'' unterscheidet man nach ihrer Lokalisation: Hals-, Brust- und Lendenwirbelsäule.
 
* Die ''vertebragenen Syndrome'' unterscheidet man nach ihrer Lokalisation: Hals-, Brust- und Lendenwirbelsäule.
* Schließlich unterscheidet man fünf verschiedene Gruppen von [[Neuropsychologische Syndrome|neuropsychologischen Syndromen]]: die schweren [[Bewusstseinsstörung]]en, die [[Aphasie]]n, die [[Apraxie]]n, die [[Agnosie]]n und die [[Amnesie]]n.
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* Schließlich unterscheidet man fünf verschiedene Gruppen von [[Wikipedia:Neuropsychologische Syndrome|neuropsychologischen Syndromen]]: die schweren [[Wikipedia:Bewusstseinsstörung|Bewusstseinsstörung]]en, die [[Wikipedia:Aphasie|Aphasie]]n, die [[Wikipedia:Apraxie|Apraxie]]n, die [[Wikipedia:Agnosie|Agnosie]]n und die [[Wikipedia:Amnesie|Amnesie]]n.
    
== Die neurologischen Erkrankungen ==
 
== Die neurologischen Erkrankungen ==
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Folgende Erkrankungsgruppen sind Gegenstand der Neurologie und werden von ihr behandelt und erforscht:
 
Folgende Erkrankungsgruppen sind Gegenstand der Neurologie und werden von ihr behandelt und erforscht:
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* Gefäßerkrankungen: hierzu zählen insbesondere der ischämische [[Hirninfarkt]] und die verschiedenen Formen der [[Hirnblutung]]en.
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* Gefäßerkrankungen: hierzu zählen insbesondere der ischämische [[Wikipedia:Hirninfarkt|Hirninfarkt]] und die verschiedenen Formen der [[Wikipedia:Hirnblutung|Hirnblutung]]en.
* Basalganglienerkrankungen: hierzu zählt vor allem die [[Parkinson-Krankheit]].
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* Basalganglienerkrankungen: hierzu zählt vor allem die [[Wikipedia:Parkinson-Krankheit|Parkinson-Krankheit]].
 
* Nervenverletzungen: in Zusammenarbeiten mit Neurochirurgen und Unfallchirurgen werden alle Formen von Nervenverletzungen behandelt.
 
* Nervenverletzungen: in Zusammenarbeiten mit Neurochirurgen und Unfallchirurgen werden alle Formen von Nervenverletzungen behandelt.
 
* Neubildungen: [[Tumor]]en von Gehirn, Rückenmark und peripheren Nerven.
 
* Neubildungen: [[Tumor]]en von Gehirn, Rückenmark und peripheren Nerven.
 
* Bandscheibenerkrankungen: alle Formen der mechanischen Nervenwurzelreizungen, die nicht oder nicht sofort operiert werden müssen, werden von Neurologen behandelt.
 
* Bandscheibenerkrankungen: alle Formen der mechanischen Nervenwurzelreizungen, die nicht oder nicht sofort operiert werden müssen, werden von Neurologen behandelt.
* Anfallsleiden: hierzu gehört die Behandlung der [[Epilepsie|epileptischen]] und nichtepileptischen Anfallsleiden.
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* Anfallsleiden: hierzu gehört die Behandlung der [[Wikipedia:Epilepsie|epileptischen]] und nichtepileptischen Anfallsleiden.
* Entzündliche Erkrankungen des Zentralnervensystems: hierzu zählen die vornehmlich [[Bakterien|bakteriellen]] und [[Viren|viralen]] [[Infektion]]en von Hirn- und Rückenmarksgewebe und -häuten.
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* Entzündliche Erkrankungen des Zentralnervensystems: hierzu zählen die vornehmlich [[Wikipedia:Bakterien|bakteriellen]] und [[Wikipedia:Viren|viralen]] [[Wikipedia:Infektion|Infektion]]en von Hirn- und Rückenmarksgewebe und -häuten.
* Entmarkungskrankheiten: hierzu zählt in erster Linie die [[Multiple Sklerose]].
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* Entmarkungskrankheiten: hierzu zählt in erster Linie die [[Wikipedia:Multiple Sklerose|Multiple Sklerose]].
* Primär degenerative Erkrankungen: hierzu zählen die [[Demenz]]en, die sog. Motoneuronerkrankungen ([[amyotrophe Lateralsklerose]], [[spinale Muskelatrophie]]n) und die degenerativen Kleinhirnerkrankungen (die hereditären [[Ataxie]]n).
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* Primär degenerative Erkrankungen: hierzu zählen die [[Wikipedia:Demenz|Demenz]]en, die sog. Motoneuronerkrankungen ([[Wikipedia:amyotrophe Lateralsklerose|amyotrophe Lateralsklerose]], [[Wikipedia:spinale Muskelatrophie|spinale Muskelatrophie]]n) und die degenerativen Kleinhirnerkrankungen (die hereditären [[Wikipedia:Ataxie|Ataxie]]n).
* [[Dysraphische Störung]]en (die sog. [[Verschlusskrankheiten]]) und Fehlbildungskrankheiten ([[Phakomatose]]n).
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* [[Dysraphische Störung]]en (die sog. [[Verschlusskrankheiten]]) und Fehlbildungskrankheiten ([[Wikipedia:Phakomatose|Phakomatose]]n).
* Erkrankungen des peripheren Nervensystems: z.&nbsp;B. [[Polyneuropathie]]n.
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* Erkrankungen des peripheren Nervensystems: z.&nbsp;B. [[Wikipedia:Polyneuropathie|Polyneuropathie]]n.
* Muskelerkrankungen: die Muskel[[dystrophie]]n, die [[Myotonie]]n und die entzündlichen Muskelerkrankungen, die [[Myositis|Myositiden]].
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* Muskelerkrankungen: die Muskel[[Wikipedia:dystrophie|dystrophie]]n, die [[Wikipedia:Myotonie|Myotonie]]n und die entzündlichen Muskelerkrankungen, die [[Wikipedia:Myositis|Myositiden]].
* Störungen der neuromuskulären Übertragung: in erster Linie die [[Myasthenie]].
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* Störungen der neuromuskulären Übertragung: in erster Linie die [[Wikipedia:Myasthenie|Myasthenie]].
* Kopf- und Gesichtsschmerzen: hier vor allem die [[Migräne]].
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* Kopf- und Gesichtsschmerzen: hier vor allem die [[Wikipedia:Migräne|Migräne]].
    
== Neurologische Untersuchungstechniken ==
 
== Neurologische Untersuchungstechniken ==
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Eine ausgefeilte Diagnosetechnik ist auch heute noch die Domäne der Neurologie. Dabei gilt die sogenannte neurologisch-topische Diagnostik als Ideal: allein aufgrund des Berichtes des Patienten über seine Beschwerden (Anamnese) und eine [[körperliche Untersuchung]] ohne technische Hilfsmittel soll der genaue Schädigungsort im [[Nervensystem]] angegeben werden. Dies erfordert eine genaue Befragung des Patienten und seiner Angehörigen, große Erfahrung in der klinischen Untersuchung von Patienten und sehr genaue theoretische Kenntnisse zur Krankheitslehre und Aufbau und Funktion des Nervensystems. Auf diese Weise können mehr als 90 % aller relevanten Diagnosen in der Neurologie gestellt werden.
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Eine ausgefeilte Diagnosetechnik ist auch heute noch die Domäne der Neurologie. Dabei gilt die sogenannte neurologisch-topische Diagnostik als Ideal: allein aufgrund des Berichtes des Patienten über seine Beschwerden (Anamnese) und eine [[Wikipedia:körperliche Untersuchung|körperliche Untersuchung]] ohne technische Hilfsmittel soll der genaue Schädigungsort im [[Nervensystem]] angegeben werden. Dies erfordert eine genaue Befragung des Patienten und seiner Angehörigen, große Erfahrung in der klinischen Untersuchung von Patienten und sehr genaue theoretische Kenntnisse zur Krankheitslehre und Aufbau und Funktion des Nervensystems. Auf diese Weise können mehr als 90 % aller relevanten Diagnosen in der Neurologie gestellt werden.
    
=== Anamneseerhebung in der Neurologie ===
 
=== Anamneseerhebung in der Neurologie ===
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Die Besonderheiten der Anamneseerhebung in der Neurologie ergeben sich aus der Natur der neurologischen Erkrankungen. Bei manchen Erkrankungen liegt der Beginn lange zurück, so dass die Patienten daran keine genaue Erinnerung haben. Dann finden die Patienten häufig nicht die richtigen Worte für die Phänomene, die den Neurologen interessieren. So wird manchmal eine Lähmung mit einer Sensibilitätsstörung verwechselt, eine Koordinationsstörung wird wie eine Lähmung beschrieben und manchmal werden Kopf- und Gesichtsschmerzen verwechselt usw. In solchen Fällen muss der Arzt die Anamnese der Patienten strukturieren. Das heißt, man muss eine Vorstellung von den Beschwerden haben, die der Patient haben könnte und dann genau erfragen, welche Störung vorliegt und die gebildete Hypothese, die Beschreibung des Patienten und die eigene Anschauung und der Befund der körperlichen Untersuchung in Übereinstimmung gebracht werden. Da dies häufig nicht bei dem ersten Gespräch möglich ist, braucht die Neurologie Zeit. Es lohnt sich, Patienten immer wieder nach ihren Beschwerden zu befragen und Angehörige hinzuzuziehen, um das Bild von der Störung des Patienten zu vervollständigen.
 
Die Besonderheiten der Anamneseerhebung in der Neurologie ergeben sich aus der Natur der neurologischen Erkrankungen. Bei manchen Erkrankungen liegt der Beginn lange zurück, so dass die Patienten daran keine genaue Erinnerung haben. Dann finden die Patienten häufig nicht die richtigen Worte für die Phänomene, die den Neurologen interessieren. So wird manchmal eine Lähmung mit einer Sensibilitätsstörung verwechselt, eine Koordinationsstörung wird wie eine Lähmung beschrieben und manchmal werden Kopf- und Gesichtsschmerzen verwechselt usw. In solchen Fällen muss der Arzt die Anamnese der Patienten strukturieren. Das heißt, man muss eine Vorstellung von den Beschwerden haben, die der Patient haben könnte und dann genau erfragen, welche Störung vorliegt und die gebildete Hypothese, die Beschreibung des Patienten und die eigene Anschauung und der Befund der körperlichen Untersuchung in Übereinstimmung gebracht werden. Da dies häufig nicht bei dem ersten Gespräch möglich ist, braucht die Neurologie Zeit. Es lohnt sich, Patienten immer wieder nach ihren Beschwerden zu befragen und Angehörige hinzuzuziehen, um das Bild von der Störung des Patienten zu vervollständigen.
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Manche Anamnesen können vollständig strukturiert werden. Hierzu gehört zum Beispiel die Befragung der Patienten mit Kopfschmerzen und Anfallsleiden. Die neurologische Anamnese dieser Erkrankungen umfasst bei der [[Epilepsie]] folgende Aspekte: Beginn der Erkrankung, Vorkommen von Fieberkrämpfen in der Kindheit, Frequenz der Anfälle pro Zeiteinheit (Woche, Monat), tageszeitliche Bindung (Vorkommen zu bestimmten Tageszeiten), auslösende Faktoren, spüren die Patienten, wenn ein Anfall kommt ([[Aura (Epilepsie)|Aura]]), wie lange dauert der Anfall, sind die Patienten bewusstlos, kommen Zungenbiss (an der Spitze der Zunge oder seitlich an der Zunge) vor, wird eingekotet oder eingenässt, führt der Anfall zu Stürzen bei denen sich die Patienten verletzen, gibt es nach dem Anfall besondere Beschwerden (anhaltende Verwirrtheit, Sprachstörung oder ähnliches), wenn Zeugen den Anfall beobachtet haben, können sie die motorischen Entäußerungen beschreiben, sind die Augen bei dem Anfall geöffnet oder geschlossen, wie fallen die Patienten hin, welche Medikamente in welcher Dosis wurden bisher verordnet, haben sie die Anfälle wirksam unterdrückt, wurden Medikamente regelmäßig eingenommen, wurden Medikamentenspiegel bestimmt? Bei den Kopf- und Gesichtschmerzen strukturiert man die Befragung ähnlich, fügt aber noch besondere Fragen zum Schmerzcharakter hinzu.
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Manche Anamnesen können vollständig strukturiert werden. Hierzu gehört zum Beispiel die Befragung der Patienten mit Kopfschmerzen und Anfallsleiden. Die neurologische Anamnese dieser Erkrankungen umfasst bei der [[Wikipedia:Epilepsie|Epilepsie]] folgende Aspekte: Beginn der Erkrankung, Vorkommen von Fieberkrämpfen in der Kindheit, Frequenz der Anfälle pro Zeiteinheit (Woche, Monat), tageszeitliche Bindung (Vorkommen zu bestimmten Tageszeiten), auslösende Faktoren, spüren die Patienten, wenn ein Anfall kommt ([[Wikipedia:Aura (Epilepsie)|Aura]]), wie lange dauert der Anfall, sind die Patienten bewusstlos, kommen Zungenbiss (an der Spitze der Zunge oder seitlich an der Zunge) vor, wird eingekotet oder eingenässt, führt der Anfall zu Stürzen bei denen sich die Patienten verletzen, gibt es nach dem Anfall besondere Beschwerden (anhaltende Verwirrtheit, Sprachstörung oder ähnliches), wenn Zeugen den Anfall beobachtet haben, können sie die motorischen Entäußerungen beschreiben, sind die Augen bei dem Anfall geöffnet oder geschlossen, wie fallen die Patienten hin, welche Medikamente in welcher Dosis wurden bisher verordnet, haben sie die Anfälle wirksam unterdrückt, wurden Medikamente regelmäßig eingenommen, wurden Medikamentenspiegel bestimmt? Bei den Kopf- und Gesichtschmerzen strukturiert man die Befragung ähnlich, fügt aber noch besondere Fragen zum Schmerzcharakter hinzu.
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Abschließend ist zu sagen, dass eine Anamneseerhebung sich immer an den Beschwerden des Patienten und an der vermuteten Erkrankung orientiert. Einen Patienten mit der Erstmanifestation einer entzündlichen Erkrankung des zentralen Nervensystems befragt man anders als einen Patienten mit einer [[Parkinson-Krankheit]]. Manchmal sind Fremdanamnesen die einzigen Informationen, die man in einer Notfallsituation erhält. Manche Patienten können überhaupt keine Angaben zu ihrer Erkrankung machen (kleine Kinder, Tiere in der Tierneurologie). Solche Situationen sind immer eine besondere Herausforderung.
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Abschließend ist zu sagen, dass eine Anamneseerhebung sich immer an den Beschwerden des Patienten und an der vermuteten Erkrankung orientiert. Einen Patienten mit der Erstmanifestation einer entzündlichen Erkrankung des zentralen Nervensystems befragt man anders als einen Patienten mit einer [[Wikipedia:Parkinson-Krankheit|Parkinson-Krankheit]]. Manchmal sind Fremdanamnesen die einzigen Informationen, die man in einer Notfallsituation erhält. Manche Patienten können überhaupt keine Angaben zu ihrer Erkrankung machen (kleine Kinder, Tiere in der Tierneurologie). Solche Situationen sind immer eine besondere Herausforderung.
    
=== Die körperliche Untersuchung in der Neurologie ===
 
=== Die körperliche Untersuchung in der Neurologie ===
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[[Datei:Gray724.png|mini|Hirnnerven in ihrem Verlauf an der Schädelbasis]]
 
[[Datei:Gray724.png|mini|Hirnnerven in ihrem Verlauf an der Schädelbasis]]
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'''Hirnnervenfunktion''': Es gibt zwölf [[Hirnnerv]]en<nowiki />paare. Die Funktion jedes Hirnnerven kann in einer neurologischen Untersuchung geprüft werden. Da dies sehr aufwändig ist, werden Hirnnerven meist nur „orientierend“ untersucht. Das heißt, man macht eine unvollständige Untersuchung unter der Annahme, dass wahrscheinlich alles in Ordnung ist. Wenn jedoch eine Hirnnervenstörung vermutet wird, muss im Zweifelsfall jede einzelne Funktion genau geprüft werden. Die ersten beiden Hirnnerven sind der [[Nervus olfactorius]] für den [[Geruchssinn]] und der [[Nervus opticus]] für den Sehsinn. Das Riechen wird mit Riechstoffen geprüft (z.&nbsp;B. mit Kaffeepulver) und das Gesichtsfeld mittels der sogenannten [[Perimetrie#Fingerperimetrie|Fingerperimetrie]]. Die Hirnnerven [[Nervus oculomotorius|III]], [[Nervus trochlearis|IV]] und [[Nervus abducens|VI]] steuern die Bewegungen der Augen (Bewegung eines Fingers des Arztes verfolgen). Der fünfte Hirnnerv ist der [[Nervus trigeminus]]. Er versorgt sensibel das Gesicht und motorisch die [[Kaumuskulatur]]. Der [[Nervus facialis]] ist der siebte Hirnnerv. Er versorgt motorisch die [[mimische Muskulatur]]. Der [[Nervus vestibulocochlearis|achte Hirnnerv]] ist für [[Ohr|Gehör-]] und [[Gleichgewichtsorgan]] zuständig. Hier kommt der [[Stimmgabeltest]] zur Anwendung. Den [[Gleichgewichtssinn]] prüft man sinnvollerweise nur, wenn er gestört ist. Die Patienten haben dann ein [[Vertigo|Schwindelgefühl]]. Zu diesem Zweck gibt es spezielle Methoden, mit denen man Schwindel provozieren kann. Der neunte Hirnnerv ist der [[Nervus glossopharyngeus]]. Er hilft beim Schlucken und vermittelt auch den Geschmack im hinteren Zungendrittel (dort schmeckt man bitter). Der zehnte Hirnnerv ist der [[Nervus vagus]], er vermittelt die vegetative [[Parasympathikus|parasympathische]] [[Innervation]] der inneren Organe. Er versorgt sensorisch außerdem die [[Ohrmuschel]] und motorisch das [[Gaumensegel]]. Der [[Nervus accessorius|elfte Hirnnerv]] steuert einen Teil der Nackenmuskulatur und der zwölfte Hirnnerv ([[Nervus hypoglossus]]) bewegt die [[Zunge]].
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'''Hirnnervenfunktion''': Es gibt zwölf [[Wikipedia:Hirnnerv|Hirnnerv]]en<nowiki />paare. Die Funktion jedes Hirnnerven kann in einer neurologischen Untersuchung geprüft werden. Da dies sehr aufwändig ist, werden Hirnnerven meist nur „orientierend“ untersucht. Das heißt, man macht eine unvollständige Untersuchung unter der Annahme, dass wahrscheinlich alles in Ordnung ist. Wenn jedoch eine Hirnnervenstörung vermutet wird, muss im Zweifelsfall jede einzelne Funktion genau geprüft werden. Die ersten beiden Hirnnerven sind der [[Wikipedia:Nervus olfactorius|Nervus olfactorius]] für den [[Geruchssinn]] und der [[Wikipedia:Nervus opticus|Nervus opticus]] für den Sehsinn. Das Riechen wird mit Riechstoffen geprüft (z.&nbsp;B. mit Kaffeepulver) und das Gesichtsfeld mittels der sogenannten [[Wikipedia:Perimetrie#Fingerperimetrie|Fingerperimetrie]]. Die Hirnnerven [[Wikipedia:Nervus oculomotorius|III]], [[Wikipedia:Nervus trochlearis|IV]] und [[Wikipedia:Nervus abducens|VI]] steuern die Bewegungen der Augen (Bewegung eines Fingers des Arztes verfolgen). Der fünfte Hirnnerv ist der [[Wikipedia:Nervus trigeminus|Nervus trigeminus]]. Er versorgt sensibel das Gesicht und motorisch die [[Wikipedia:Kaumuskulatur|Kaumuskulatur]]. Der [[Wikipedia:Nervus facialis|Nervus facialis]] ist der siebte Hirnnerv. Er versorgt motorisch die [[Wikipedia:mimische Muskulatur|mimische Muskulatur]]. Der [[Wikipedia:Nervus vestibulocochlearis|achte Hirnnerv]] ist für [[Ohr|Gehör-]] und [[Wikipedia:Gleichgewichtsorgan|Gleichgewichtsorgan]] zuständig. Hier kommt der [[Wikipedia:Stimmgabeltest|Stimmgabeltest]] zur Anwendung. Den [[Gleichgewichtssinn]] prüft man sinnvollerweise nur, wenn er gestört ist. Die Patienten haben dann ein [[Wikipedia:Vertigo|Schwindelgefühl]]. Zu diesem Zweck gibt es spezielle Methoden, mit denen man Schwindel provozieren kann. Der neunte Hirnnerv ist der [[Wikipedia:Nervus glossopharyngeus|Nervus glossopharyngeus]]. Er hilft beim Schlucken und vermittelt auch den Geschmack im hinteren Zungendrittel (dort schmeckt man bitter). Der zehnte Hirnnerv ist der [[Wikipedia:Nervus vagus|Nervus vagus]], er vermittelt die vegetative [[Wikipedia:Parasympathikus|parasympathische]] [[Wikipedia:Innervation|Innervation]] der inneren Organe. Er versorgt sensorisch außerdem die [[Wikipedia:Ohrmuschel|Ohrmuschel]] und motorisch das [[Wikipedia:Gaumensegel|Gaumensegel]]. Der [[Wikipedia:Nervus accessorius|elfte Hirnnerv]] steuert einen Teil der Nackenmuskulatur und der zwölfte Hirnnerv ([[Wikipedia:Nervus hypoglossus|Nervus hypoglossus]]) bewegt die [[Zunge]].
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'''Motorik''': Die [[Motorik]] wird in verschiedenen Aspekten untersucht. Es kann mit verschiedenen Methoden die Kraft jeder Muskelgruppe und teilweise auch die von vielen einzelnen Muskeln geprüft werden. Zur Prinziperläuterung ein Beispiel: Die Bewegung der Hand wird durch drei verschiedene Nerven ermöglicht: [[Nervus radialis]], [[Nervus ulnaris]] und [[Nervus medianus]]. Der Ausfall eines der drei Nerven führt zu charakteristischen Veränderungen: Störungen der Sensibilität, Beeinträchtigung der Kraft, langfristig eine [[Muskelatrophie|Verschmächtigung der Muskulatur]] (Muskelatrophie) und Abschwächung der jeweiligen [[Reflex]]e. Im Falle des Nervus medianus (etwa durch eine Verletzung im Bereich des Ellenbogens), kann die Funktion des Nerven beeinträchtigt werden. Da der Medianus die Beugemuskulatur für Daumen, Zeige- und Mittelfinger versorgt, wird die Hand des Patienten beim Faustschluss keine volle Kraft entwickeln können. Das Öffnen des Drehverschlusses einer Flasche mit der betreffenden Hand ist nicht möglich. Die Muskulatur des Daumenballens wird mit der Zeit zurückgebildet.
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'''Motorik''': Die [[Wikipedia:Motorik|Motorik]] wird in verschiedenen Aspekten untersucht. Es kann mit verschiedenen Methoden die Kraft jeder Muskelgruppe und teilweise auch die von vielen einzelnen Muskeln geprüft werden. Zur Prinziperläuterung ein Beispiel: Die Bewegung der Hand wird durch drei verschiedene Nerven ermöglicht: [[Wikipedia:Nervus radialis|Nervus radialis]], [[Wikipedia:Nervus ulnaris|Nervus ulnaris]] und [[Wikipedia:Nervus medianus|Nervus medianus]]. Der Ausfall eines der drei Nerven führt zu charakteristischen Veränderungen: Störungen der Sensibilität, Beeinträchtigung der Kraft, langfristig eine [[Wikipedia:Muskelatrophie|Verschmächtigung der Muskulatur]] (Muskelatrophie) und Abschwächung der jeweiligen [[Wikipedia:Reflex|Reflex]]e. Im Falle des Nervus medianus (etwa durch eine Verletzung im Bereich des Ellenbogens), kann die Funktion des Nerven beeinträchtigt werden. Da der Medianus die Beugemuskulatur für Daumen, Zeige- und Mittelfinger versorgt, wird die Hand des Patienten beim Faustschluss keine volle Kraft entwickeln können. Das Öffnen des Drehverschlusses einer Flasche mit der betreffenden Hand ist nicht möglich. Die Muskulatur des Daumenballens wird mit der Zeit zurückgebildet.
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'''Reflexe''': Bei einer neurologischen Untersuchung können etwa zehn so genannte Muskeldehnungsreflexe geprüft werden. An dieser Stelle wird zur Erläuterung nur ein einziger dieser [[Reflex]]e kurz erklärt werden. Allgemein bekannt ist der [[Patellarsehnenreflex]]: Man schlägt mit einem Reflexhammer leicht auf die Sehne, die unterhalb der [[Kniescheibe]] zur vorderen Seite des [[Schienbein]]s führt. Vorausgesetzt das zu untersuchende Bein ist so gelagert, dass der Unterschenkel frei schwingen kann, wird die Auslösung des Reflexes dazu führen, dass das Bein im [[Kniegelenk|Knie]] gestreckt wird: Der [[Unterschenkel]] schwingt nach vorne (das ist die Reflexantwort). Das Prinzip ist dabei, dass durch den Schlag auf die [[Sehne (Anatomie)|Sehne]] der dazugehörige Muskel ([[Musculus quadriceps femoris]]) kurz gedehnt wird. Die den Muskel versorgenden Nerven treten im Bereich der [[Lendenwirbelsäule]] (L3, 4) aus dem Rückenmarkskanal. Über einen Reflexbogen wird die Reflexantwort eingeleitet. Wenn nun aufgrund einer Gewebsveränderung im Bereich der Nervenaustrittsstellen der entsprechenden Lendenwirbelkörper Teile der [[Bandscheibe]]n auf die [[Nervenwurzel]]n drücken, so hat dies außer den Schmerzen eine Funktionseinschränkung zur Folge. Der Muskel wird nicht mehr richtig innerviert und führt somit zu einer Schwäche der Streckung des Beines. Außerdem wird die Reflexantwort so beeinträchtigt, dass sie abgeschwächt im Seitenvergleich mit der gesunden Seite ist. Der abgeschwächte Reflex zeigt die sogenannte „periphere“ Lähmung an. Der Ort der Läsion sitzt nicht im [[Zentralnervensystem]] (Gehirn oder Rückenmark), sondern im peripheren Nervensystem, hier im Bereich der Nervenwurzel.
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'''Reflexe''': Bei einer neurologischen Untersuchung können etwa zehn so genannte Muskeldehnungsreflexe geprüft werden. An dieser Stelle wird zur Erläuterung nur ein einziger dieser [[Wikipedia:Reflex|Reflex]]e kurz erklärt werden. Allgemein bekannt ist der [[Wikipedia:Patellarsehnenreflex|Patellarsehnenreflex]]: Man schlägt mit einem Reflexhammer leicht auf die Sehne, die unterhalb der [[Wikipedia:Kniescheibe|Kniescheibe]] zur vorderen Seite des [[Wikipedia:Schienbein|Schienbein]]s führt. Vorausgesetzt das zu untersuchende Bein ist so gelagert, dass der Unterschenkel frei schwingen kann, wird die Auslösung des Reflexes dazu führen, dass das Bein im [[Wikipedia:Kniegelenk|Knie]] gestreckt wird: Der [[Wikipedia:Unterschenkel|Unterschenkel]] schwingt nach vorne (das ist die Reflexantwort). Das Prinzip ist dabei, dass durch den Schlag auf die [[Wikipedia:Sehne (Anatomie)|Sehne]] der dazugehörige Muskel ([[Wikipedia:Musculus quadriceps femoris|Musculus quadriceps femoris]]) kurz gedehnt wird. Die den Muskel versorgenden Nerven treten im Bereich der [[Wikipedia:Lendenwirbelsäule|Lendenwirbelsäule]] (L3, 4) aus dem Rückenmarkskanal. Über einen Reflexbogen wird die Reflexantwort eingeleitet. Wenn nun aufgrund einer Gewebsveränderung im Bereich der Nervenaustrittsstellen der entsprechenden Lendenwirbelkörper Teile der [[Wikipedia:Bandscheibe|Bandscheibe]]n auf die [[Wikipedia:Nervenwurzel|Nervenwurzel]]n drücken, so hat dies außer den Schmerzen eine Funktionseinschränkung zur Folge. Der Muskel wird nicht mehr richtig innerviert und führt somit zu einer Schwäche der Streckung des Beines. Außerdem wird die Reflexantwort so beeinträchtigt, dass sie abgeschwächt im Seitenvergleich mit der gesunden Seite ist. Der abgeschwächte Reflex zeigt die sogenannte „periphere“ Lähmung an. Der Ort der Läsion sitzt nicht im [[Wikipedia:Zentralnervensystem|Zentralnervensystem]] (Gehirn oder Rückenmark), sondern im peripheren Nervensystem, hier im Bereich der Nervenwurzel.
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'''Sensibilität''': Es gibt vier verschiedene sensible Qualitäten: [[Tastsinn|Tast-]] und Berührungsempfinden, Druckempfinden, Lage der Extremitäten sowie [[Nozizeption|Schmerz-]] und [[Thermozeption|Temperaturempfinden]]. Die Oberfläche des menschlichen Körpers kann bezogen auf die [[Sensibilität (Medizin)|Sensibilität]] in abgegrenzte Areale aufgeteilt werden. Dabei sieht diese Aufteilung der Oberfläche des Körpers in sensible Areale ([[Dermatom (Anatomie)|Dermatome]]) jeweils anders aus, je nachdem ob eine Nervenwurzel oder ein Nerv im weiteren Verlauf geschädigt ist. Bei einer Schädigung des Nervus medianus erleidet man ein Taubheitsgefühl im Bereich der Innenhand zwischen Daumen und Zeigefinger (Medianusversorgungsgebiet). Wenn die Bandscheibe zwischen dem dritten und vierten Lendenwirbelkörper auf die jeweilige Nervenwurzel drückt, erleidet man ein Taubheitsgefühl in dem entsprechenden Versorgungsgebiet, das von der Außenseite des Oberschenkels auf die Innenseite des Unterschenkels reicht.
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'''Sensibilität''': Es gibt vier verschiedene sensible Qualitäten: [[Tastsinn|Tast-]] und Berührungsempfinden, Druckempfinden, Lage der Extremitäten sowie [[Wikipedia:Nozizeption|Schmerz-]] und [[Wikipedia:Thermozeption|Temperaturempfinden]]. Die Oberfläche des menschlichen Körpers kann bezogen auf die [[Wikipedia:Sensibilität (Medizin)|Sensibilität]] in abgegrenzte Areale aufgeteilt werden. Dabei sieht diese Aufteilung der Oberfläche des Körpers in sensible Areale ([[Wikipedia:Dermatom (Anatomie)|Dermatome]]) jeweils anders aus, je nachdem ob eine Nervenwurzel oder ein Nerv im weiteren Verlauf geschädigt ist. Bei einer Schädigung des Nervus medianus erleidet man ein Taubheitsgefühl im Bereich der Innenhand zwischen Daumen und Zeigefinger (Medianusversorgungsgebiet). Wenn die Bandscheibe zwischen dem dritten und vierten Lendenwirbelkörper auf die jeweilige Nervenwurzel drückt, erleidet man ein Taubheitsgefühl in dem entsprechenden Versorgungsgebiet, das von der Außenseite des Oberschenkels auf die Innenseite des Unterschenkels reicht.
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'''Koordination''': Störungen der Koordination von Bewegungen können verschiedene Ursachen haben. Bei einer Funktionsstörung des [[Kleinhirn]]s kann es zu einer sogenannten [[Ataxie]] kommen. Eine solche Bewegungsstörung verursacht einen über das Ziel hinausschießenden Bewegungsablauf. Man prüft dies zum Beispiel mittels Zeigeversuch (mit geschlossenen Augen den Zeigefinger in großem Bogen auf die Nasenspitze aufsetzen). Auch bei Sensibilitätsstörungen kommt es zu Beeinträchtigungen des Bewegungsablaufes. [[Alkoholismus]] und [[Diabetes mellitus|Diabetes]] sind häufige Ursachen einer sensiblen [[Neuropathie]] bei der es zu Störungen der peripheren Nervenfunktion, bevorzugt in den unteren Extremitäten mit Taubheitsgefühl, kommt. Da die Patienten den Boden nicht richtig spüren, gehen sie unsicher und breitbasig ([[Seemannsgang]]).
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'''Koordination''': Störungen der Koordination von Bewegungen können verschiedene Ursachen haben. Bei einer Funktionsstörung des [[Wikipedia:Kleinhirn|Kleinhirn]]s kann es zu einer sogenannten [[Wikipedia:Ataxie|Ataxie]] kommen. Eine solche Bewegungsstörung verursacht einen über das Ziel hinausschießenden Bewegungsablauf. Man prüft dies zum Beispiel mittels Zeigeversuch (mit geschlossenen Augen den Zeigefinger in großem Bogen auf die Nasenspitze aufsetzen). Auch bei Sensibilitätsstörungen kommt es zu Beeinträchtigungen des Bewegungsablaufes. [[Wikipedia:Alkoholismus|Alkoholismus]] und [[Wikipedia:Diabetes mellitus|Diabetes]] sind häufige Ursachen einer sensiblen [[Wikipedia:Neuropathie|Neuropathie]] bei der es zu Störungen der peripheren Nervenfunktion, bevorzugt in den unteren Extremitäten mit Taubheitsgefühl, kommt. Da die Patienten den Boden nicht richtig spüren, gehen sie unsicher und breitbasig ([[Wikipedia:Seemannsgang|Seemannsgang]]).
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'''Muskeltonus''': Manche Erkrankungen ([[Multiple Sklerose]], [[Morbus Parkinson]]) verursachen typische Veränderungen der Tonisierung der Muskulatur. Normalerweise lassen sich Gliedmaßen passiv ohne Widerstand bewegen, wenn die Patienten sich entspannen. Menschen mit einer Multiplen Sklerose zeigen häufig eine spastische Gangstörung (der Gang sieht staksig und ungelenk aus) und man kann den erhöhten [[Muskeltonus]] in den Beinen spüren, indem man das entspannte Bein des Patienten im Knie beugt und streckt. Dabei spürt man eine plötzliche Widerstandserhöhung bei der Bewegung, die nachlässt, wenn man die Kraftwirkung zurücknimmt. Ähnliches gilt für den sogenannten [[Rigor]] der Muskulatur bei der Parkinsonkrankheit. Ein für diese Erkrankung in diesem Zusammenhang charakteristisches Zeichen ist das sog. [[Zahnradphänomen]].
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'''Muskeltonus''': Manche Erkrankungen ([[Wikipedia:Multiple Sklerose|Multiple Sklerose]], [[Wikipedia:Morbus Parkinson|Morbus Parkinson]]) verursachen typische Veränderungen der Tonisierung der Muskulatur. Normalerweise lassen sich Gliedmaßen passiv ohne Widerstand bewegen, wenn die Patienten sich entspannen. Menschen mit einer Multiplen Sklerose zeigen häufig eine spastische Gangstörung (der Gang sieht staksig und ungelenk aus) und man kann den erhöhten [[Wikipedia:Muskeltonus|Muskeltonus]] in den Beinen spüren, indem man das entspannte Bein des Patienten im Knie beugt und streckt. Dabei spürt man eine plötzliche Widerstandserhöhung bei der Bewegung, die nachlässt, wenn man die Kraftwirkung zurücknimmt. Ähnliches gilt für den sogenannten [[Wikipedia:Rigor|Rigor]] der Muskulatur bei der Parkinsonkrankheit. Ein für diese Erkrankung in diesem Zusammenhang charakteristisches Zeichen ist das sog. [[Wikipedia:Zahnradphänomen|Zahnradphänomen]].
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'''[[Meningismus]]''': Die Nackensteifigkeit kommt durch eine Reizung der Hirnhäute zustande und zeigt sich vor allem in einer Schonhaltung der Patienten. Getestet wird dies durch verschiedene Manöver, die die Hirnhäute leicht dehnen (z.&nbsp;B. Vorbeugen des Kopfes). Allerdings ist die Untersuchung für Patienten mit einer Meningitis sehr schmerzhaft.
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'''[[Wikipedia:Meningismus|Meningismus]]''': Die Nackensteifigkeit kommt durch eine Reizung der Hirnhäute zustande und zeigt sich vor allem in einer Schonhaltung der Patienten. Getestet wird dies durch verschiedene Manöver, die die Hirnhäute leicht dehnen (z.&nbsp;B. Vorbeugen des Kopfes). Allerdings ist die Untersuchung für Patienten mit einer Meningitis sehr schmerzhaft.
    
[[Datei:Gray764.png|mini|Pyramidenbahn]]
 
[[Datei:Gray764.png|mini|Pyramidenbahn]]
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'''Pyramidenbahnzeichen''': Die [[Pyramidales System|Pyramidenbahn]] besteht aus einem Bündel von Nervenzellfortsätzen, die von [[Frontallappen|Stirnhirn]] bis zu den ersten Umschaltstellen im Rückenmark ununterbrochen durchlaufen. Diese Zellen sind so etwas wie ein Schrittmacher der willkürlichen Bewegungen. Der Name Pyramidenbahn stammt von einer Struktur im [[Hirnstamm]] (der ''pyramis''), durch die die Pyramidenbahn hindurchläuft. Wenn dieses Nervenbündel an irgendeiner Stelle unterbrochen wird, kommt es zu einem typischen Funktionsausfall: einer [[Spastik|spastischen Lähmung]] (Kraftminderung mit Muskeltonuserhöhung). Die Ursachen können völlig unterschiedlich sein: Eine Verletzung der Wirbelsäule und des Rückenmarkes, eine Durchblutungsstörung im Hirnstamm, eine Hirnblutung im Bereich der sogenannten [[Capsula interna|Kapsel]] oder ein [[Tumor]] in der [[Großhirnrinde]] an der entsprechenden Stelle. Neben der Lähmung und der Muskeltonuserhöhung finden sich dann häufig sogenannte Pyramidenbahnzeichen. Man meint damit in erster Linie das Anheben (''Dorsalextension'') der großen Zehe beim Bestreichen der Fußsohle an ihrem Außenrand ([[Babinski-Reflex]]).
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'''Pyramidenbahnzeichen''': Die [[Wikipedia:Pyramidales System|Pyramidenbahn]] besteht aus einem Bündel von Nervenzellfortsätzen, die von [[Wikipedia:Frontallappen|Stirnhirn]] bis zu den ersten Umschaltstellen im Rückenmark ununterbrochen durchlaufen. Diese Zellen sind so etwas wie ein Schrittmacher der willkürlichen Bewegungen. Der Name Pyramidenbahn stammt von einer Struktur im [[Wikipedia:Hirnstamm|Hirnstamm]] (der ''pyramis''), durch die die Pyramidenbahn hindurchläuft. Wenn dieses Nervenbündel an irgendeiner Stelle unterbrochen wird, kommt es zu einem typischen Funktionsausfall: einer [[Wikipedia:Spastik|spastischen Lähmung]] (Kraftminderung mit Muskeltonuserhöhung). Die Ursachen können völlig unterschiedlich sein: Eine Verletzung der Wirbelsäule und des Rückenmarkes, eine Durchblutungsstörung im Hirnstamm, eine Hirnblutung im Bereich der sogenannten [[Wikipedia:Capsula interna|Kapsel]] oder ein [[Tumor]] in der [[Wikipedia:Großhirnrinde|Großhirnrinde]] an der entsprechenden Stelle. Neben der Lähmung und der Muskeltonuserhöhung finden sich dann häufig sogenannte Pyramidenbahnzeichen. Man meint damit in erster Linie das Anheben (''Dorsalextension'') der großen Zehe beim Bestreichen der Fußsohle an ihrem Außenrand ([[Wikipedia:Babinski-Reflex|Babinski-Reflex]]).
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'''Weitere Untersuchungsverfahren: ''' Bei verschiedenen Erkrankungen werden besondere Untersuchungen durchgeführt. So kann man mit bestimmten Verfahren die [[Schweiß]]-[[Sekretion]] prüfen oder die Anpassung von [[Blutdruck]] und [[Puls]] bei Belastung. Nach Schlaganfällen prüft man die motorischen Funktionen der Sprache, wenn eine [[Dysarthrie]] vorliegt oder die grammatischen Funktionen der Sprache im Falle einer [[Aphasie]]. Störungen komplexer Bewegungsabläufe ohne Beeinträchtigung von Kraft und Empfinden nennen wir [[Apraxie]]n (ein Beispiel wäre das Anziehen einer Jacke). Manche Patienten bemerken nach einem Schlaganfall ihr neu entstandenes Defizit nicht ([[Anosognosie]]). Manchmal tritt nach einem Schlaganfall ein Gesichtsfeldausfall ein, den die Patienten nicht bemerken. Das Nichtbemerken dieser Störung wird [[Neglect]] genannt. Für diese Phänomene gibt es besondere Untersuchungsverfahren. Ein weiteres besonderes Gebiet ist die neurologische Untersuchung von bewusstseinsgestörten Patienten und kleinen Kindern.
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'''Weitere Untersuchungsverfahren: ''' Bei verschiedenen Erkrankungen werden besondere Untersuchungen durchgeführt. So kann man mit bestimmten Verfahren die [[Wikipedia:Schweiß|Schweiß]]-[[Wikipedia:Sekretion|Sekretion]] prüfen oder die Anpassung von [[Wikipedia:Blutdruck|Blutdruck]] und [[Wikipedia:Puls|Puls]] bei Belastung. Nach Schlaganfällen prüft man die motorischen Funktionen der Sprache, wenn eine [[Wikipedia:Dysarthrie|Dysarthrie]] vorliegt oder die grammatischen Funktionen der Sprache im Falle einer [[Wikipedia:Aphasie|Aphasie]]. Störungen komplexer Bewegungsabläufe ohne Beeinträchtigung von Kraft und Empfinden nennen wir [[Wikipedia:Apraxie|Apraxie]]n (ein Beispiel wäre das Anziehen einer Jacke). Manche Patienten bemerken nach einem Schlaganfall ihr neu entstandenes Defizit nicht ([[Wikipedia:Anosognosie|Anosognosie]]). Manchmal tritt nach einem Schlaganfall ein Gesichtsfeldausfall ein, den die Patienten nicht bemerken. Das Nichtbemerken dieser Störung wird [[Wikipedia:Neglect|Neglect]] genannt. Für diese Phänomene gibt es besondere Untersuchungsverfahren. Ein weiteres besonderes Gebiet ist die neurologische Untersuchung von bewusstseinsgestörten Patienten und kleinen Kindern.
    
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Untersuchungsmethoden, die hier kurz vorgestellt wurden und von denen nur eine unvollständige Auswahl gegeben werden konnte, für das Erkennen neurologischer Erkrankungen unersetzlich sind. Kein technisches Verfahren kann an die Stelle einer aufmerksamen Beobachtung und eines einfühlsamen Gesprächs sowie der vielen verschiedenen Manöver und Prüfungen treten. Das Ziel aller dieser Maßnahmen ist eine Diagnose und damit die Bestimmung, welche neurologische Erkrankung vorliegt.
 
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Untersuchungsmethoden, die hier kurz vorgestellt wurden und von denen nur eine unvollständige Auswahl gegeben werden konnte, für das Erkennen neurologischer Erkrankungen unersetzlich sind. Kein technisches Verfahren kann an die Stelle einer aufmerksamen Beobachtung und eines einfühlsamen Gesprächs sowie der vielen verschiedenen Manöver und Prüfungen treten. Das Ziel aller dieser Maßnahmen ist eine Diagnose und damit die Bestimmung, welche neurologische Erkrankung vorliegt.
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Die technischen Untersuchungsverfahren in der Neurologie sind sehr vielgestaltig.
 
Die technischen Untersuchungsverfahren in der Neurologie sind sehr vielgestaltig.
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Durch die Untersuchung ''biologischen Materials'' wie [[Blut]] (Laborwerte), Nervenwasser ([[Lumbalpunktion|Liquordiagnostik]]), Gewebeproben von Nerven und Muskeln sowie Genanalysen können eine Reihe von Krankheiten diagnostiziert werden.
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Durch die Untersuchung ''biologischen Materials'' wie [[Blut]] (Laborwerte), Nervenwasser ([[Wikipedia:Lumbalpunktion|Liquordiagnostik]]), Gewebeproben von Nerven und Muskeln sowie Genanalysen können eine Reihe von Krankheiten diagnostiziert werden.
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Eine weitere Gruppe von Untersuchungsverfahren ist die Messung ''elektrischer Phänomene'', wie die der Hirnströme ([[Elektroenzephalographie]] (EEG), [[Evozierte Potentiale]]), der Muskelfunktionen ([[Elektromyografie]], EMG), der elektrischen Funktionen der Nerven ([[Nervenleitgeschwindigkeit]] durch [[Elektroneurographie]], ENG) und die [[transkranielle Magnetstimulation]].
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Eine weitere Gruppe von Untersuchungsverfahren ist die Messung ''elektrischer Phänomene'', wie die der Hirnströme ([[Wikipedia:Elektroenzephalographie|Elektroenzephalographie]] (EEG), [[Wikipedia:Evozierte Potentiale|Evozierte Potentiale]]), der Muskelfunktionen ([[Wikipedia:Elektromyografie|Elektromyografie]], EMG), der elektrischen Funktionen der Nerven ([[Wikipedia:Nervenleitgeschwindigkeit|Nervenleitgeschwindigkeit]] durch [[Wikipedia:Elektroneurographie|Elektroneurographie]], ENG) und die [[Wikipedia:transkranielle Magnetstimulation|transkranielle Magnetstimulation]].
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Die hirnversorgenden Gefäße können mittels [[Sonografie|Ultraschall]] (extrakranielle und transkranielle Doppler- und Duplexuntersuchungen) und invasiver Verfahren (z.&nbsp;B. [[Angiografie]]) untersucht werden.
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Die hirnversorgenden Gefäße können mittels [[Wikipedia:Sonografie|Ultraschall]] (extrakranielle und transkranielle Doppler- und Duplexuntersuchungen) und invasiver Verfahren (z.&nbsp;B. [[Wikipedia:Angiografie|Angiografie]]) untersucht werden.
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''[[Bildgebendes Verfahren (Medizin)|Bildgebende Verfahren]]'' zur Darstellung des Gehirns und Rückenmarks sind [[Computertomografie]] (CT), [[Magnetresonanztomografie]] (MRT) sowie die sogenannten funktionellen bildgebenden Verfahren: [[Positronen-Emissionstomografie]] (PET), [[Single Photon Emission Computed Tomography]] (SPECT), [[Funktionelle Magnetresonanztomografie]] (fMRT) und [[Magnetoenzephalographie]] (MEG).
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''[[Wikipedia:Bildgebendes Verfahren (Medizin)|Bildgebende Verfahren]]'' zur Darstellung des Gehirns und Rückenmarks sind [[Wikipedia:Computertomografie|Computertomografie]] (CT), [[Wikipedia:Magnetresonanztomografie|Magnetresonanztomografie]] (MRT) sowie die sogenannten funktionellen bildgebenden Verfahren: [[Wikipedia:Positronen-Emissionstomografie|Positronen-Emissionstomografie]] (PET), [[Wikipedia:Single Photon Emission Computed Tomography|Single Photon Emission Computed Tomography]] (SPECT), [[Wikipedia:Funktionelle Magnetresonanztomografie|Funktionelle Magnetresonanztomografie]] (fMRT) und [[Wikipedia:Magnetoenzephalographie|Magnetoenzephalographie]] (MEG).
    
=== Die klinische Methode und die klinische Realität ===
 
=== Die klinische Methode und die klinische Realität ===
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Die Neurologie galt viele Jahre als eine Disziplin, in der sehr aufwändige diagnostische Verfahren angewandt wurden, aber nur wenige therapeutische Möglichkeiten bestanden. Dies hat sich in den letzten Jahren grundlegend gewandelt: Viele neurologische Erkrankungen sind heute weitaus besser behandelbar als noch vor wenigen Jahrzehnten. Entscheidend für die Verbesserung der Versorgung von Schlaganfallpatienten ist z.&nbsp;B. die nunmehr zur Routine gewordene bildgebende Diagnostik, die eine Unterscheidung zwischen ischämischen Hirninfarkten und Hirnblutungen erlaubt. Zur Behandlung der Parkinsonkrankheit stehen heute verschiedene Medikamentengruppen zur Verfügung.
 
Die Neurologie galt viele Jahre als eine Disziplin, in der sehr aufwändige diagnostische Verfahren angewandt wurden, aber nur wenige therapeutische Möglichkeiten bestanden. Dies hat sich in den letzten Jahren grundlegend gewandelt: Viele neurologische Erkrankungen sind heute weitaus besser behandelbar als noch vor wenigen Jahrzehnten. Entscheidend für die Verbesserung der Versorgung von Schlaganfallpatienten ist z.&nbsp;B. die nunmehr zur Routine gewordene bildgebende Diagnostik, die eine Unterscheidung zwischen ischämischen Hirninfarkten und Hirnblutungen erlaubt. Zur Behandlung der Parkinsonkrankheit stehen heute verschiedene Medikamentengruppen zur Verfügung.
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Bei der Behandlung der Anfallsleiden kann in vielen Fällen eine Anfallsfreiheit erreicht werden. Die infektiös-entzündlichen Erkrankungen des Nervensystems sind bei frühzeitiger Diagnostik fast alle vollständig heilbar. Die Multiple Sklerose ist weiterhin nicht heilbar, seit der Einführung der [[Interferon]]e sind die Verläufe aber besser beeinflussbar geworden. Bei den meisten degenerativen Erkrankungen des Nervensystems, den Fehlbildungen und [[Angeborene Muskelerkrankung|angeborenen Muskelerkrankungen]] sind die Behandlungsmöglichkeiten weiterhin sehr begrenzt.
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Bei der Behandlung der Anfallsleiden kann in vielen Fällen eine Anfallsfreiheit erreicht werden. Die infektiös-entzündlichen Erkrankungen des Nervensystems sind bei frühzeitiger Diagnostik fast alle vollständig heilbar. Die Multiple Sklerose ist weiterhin nicht heilbar, seit der Einführung der [[Wikipedia:Interferon|Interferon]]e sind die Verläufe aber besser beeinflussbar geworden. Bei den meisten degenerativen Erkrankungen des Nervensystems, den Fehlbildungen und [[Wikipedia:Angeborene Muskelerkrankung|angeborenen Muskelerkrankungen]] sind die Behandlungsmöglichkeiten weiterhin sehr begrenzt.
    
== Die klinische Methode in der Neurologie ==
 
== Die klinische Methode in der Neurologie ==
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=== Der Patient als Richtschnur ===
 
=== Der Patient als Richtschnur ===
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Lehrbücher der Neurologie betonen die besondere Bedeutung der klinischen Untersuchung des Patienten. Die genaue Befragung des Patienten und die an den Beschwerden orientierte körperliche Untersuchung sind in der Neurologie überaus wichtig. Im Laufe dieser Untersuchung bildet der Arzt Hypothesen über die Art der Erkrankung seines Patienten. Hierbei leitet ihn das Wissen um die Funktionsweise des Nervensystems ([[Neuroanatomie]], [[Neurophysiologie]]), das Wissen um die verschiedenen neurologischen Erkrankungen und seine Erfahrung, der sogenannte klinische Blick für typische Kombinationen von Beschwerden und Zeichen bei bestimmten Erkrankungen. Aufgrund dieser Hypothesen fertigt er eine Vermutung darüber an, welche Region des Nervensystems geschädigt sein könnte (Schädigungsort im Sinne einer neurologisch-topischen Diagnostik). Dann veranlasst er eine gezielte Untersuchung, die möglichst die gebildeten Hypothesen zum Schädigungsort bestätigen oder widerlegen sollte. Die folgenden Fallbeispiele werden diese Vorgehensweise verdeutlichen.
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Lehrbücher der Neurologie betonen die besondere Bedeutung der klinischen Untersuchung des Patienten. Die genaue Befragung des Patienten und die an den Beschwerden orientierte körperliche Untersuchung sind in der Neurologie überaus wichtig. Im Laufe dieser Untersuchung bildet der Arzt Hypothesen über die Art der Erkrankung seines Patienten. Hierbei leitet ihn das Wissen um die Funktionsweise des Nervensystems ([[Wikipedia:Neuroanatomie|Neuroanatomie]], [[Wikipedia:Neurophysiologie|Neurophysiologie]]), das Wissen um die verschiedenen neurologischen Erkrankungen und seine Erfahrung, der sogenannte klinische Blick für typische Kombinationen von Beschwerden und Zeichen bei bestimmten Erkrankungen. Aufgrund dieser Hypothesen fertigt er eine Vermutung darüber an, welche Region des Nervensystems geschädigt sein könnte (Schädigungsort im Sinne einer neurologisch-topischen Diagnostik). Dann veranlasst er eine gezielte Untersuchung, die möglichst die gebildeten Hypothesen zum Schädigungsort bestätigen oder widerlegen sollte. Die folgenden Fallbeispiele werden diese Vorgehensweise verdeutlichen.
    
==== Fallbeispiel I: Normaldruckhydrozephalus ====
 
==== Fallbeispiel I: Normaldruckhydrozephalus ====
 
[[Datei:Gray736.png|mini|Ventrikelsystem]]
 
[[Datei:Gray736.png|mini|Ventrikelsystem]]
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Ein 71 Jahre alter männlicher Patient wird von den Angehörigen in die neurologische Sprechstunde gebracht. Man berichtet, der Großvater sei in letzter Zeit wiederholt gestürzt, habe sich aber nicht verletzt, außerdem sei er vergesslich geworden und man habe festgestellt, dass er Probleme beim Wasserlassen habe. Auf gezieltes Nachfragen berichten die Angehörigen, dass die Beschwerden mit der Zeit kamen und das Ganze sich schon mindestens zwei Jahre hinzieht. Dann wird der Patient körperlich untersucht. Der Neurologe fordert den Patienten auf, durch das Zimmer zu gehen: Er zeigt ein schwerfälliges Gangbild und hebt beim Laufen die Füße nur wenig an. Die Arbeitshypothese lautet nun: eine [[Demenz]] mit [[Blasenentleerungsstörung]] und sogenanntem „magnetischem“ Gang, die seit etwa zwei Jahren besteht und mit Zunahme der Beschwerden einherging, könnte ihre Ursache in einem sich langsam entwickelten [[Hydrozephalus]] haben. Zunächst wird eine [[Craniale Computertomographie|CCT]] des [[Schädel]]s durchgeführt. Man erwartet aufgrund des vermuteten Hydrozephalus sogenannte ballonierte [[Hirnventrikel#Seitenventrikel|Seitenventrikel]] mit einer randständigen und bevorzugt frontalen [[Hypodensität]]. Da das CCT diesen Befund zeigt, wird eine therapeutisch-diagnostische Maßnahme durchgeführt: beim sog. [[Fisher-Test (Neurologie)|Fisher-Test]] wird mittels einer [[Lumbalpunktion]] probeweise ca. 30 bis 40&nbsp;ml [[Liquor cerebrospinalis|Nervenwasser]] entnommen. Diese Maßnahme sollte die Beschwerden bessern. Beim Test zeigt sich kein erhöhter Liquordruck. Etwa 10 Minuten nach der Lumbalpunktion zeigt der Patient ein gebessertes Gangbild. Seine Gedächtnisstörung wird unbeeinflusst bleiben und die [[Harninkontinenz]] wird sich später am ehesten verbessern. Der Patient wird mit der Diagnose eines [[Normaldruckhydrozephalus]] zum [[Neurochirurg]]en überwiesen zur Implantation eines [[Cerebralshunt|ventrikulo-peritonealen Shuntsystems]] zum Zweck der dauerhaften Ableitung überschüssigen Nervenwassers.
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Ein 71 Jahre alter männlicher Patient wird von den Angehörigen in die neurologische Sprechstunde gebracht. Man berichtet, der Großvater sei in letzter Zeit wiederholt gestürzt, habe sich aber nicht verletzt, außerdem sei er vergesslich geworden und man habe festgestellt, dass er Probleme beim Wasserlassen habe. Auf gezieltes Nachfragen berichten die Angehörigen, dass die Beschwerden mit der Zeit kamen und das Ganze sich schon mindestens zwei Jahre hinzieht. Dann wird der Patient körperlich untersucht. Der Neurologe fordert den Patienten auf, durch das Zimmer zu gehen: Er zeigt ein schwerfälliges Gangbild und hebt beim Laufen die Füße nur wenig an. Die Arbeitshypothese lautet nun: eine [[Wikipedia:Demenz|Demenz]] mit [[Wikipedia:Blasenentleerungsstörung|Blasenentleerungsstörung]] und sogenanntem „magnetischem“ Gang, die seit etwa zwei Jahren besteht und mit Zunahme der Beschwerden einherging, könnte ihre Ursache in einem sich langsam entwickelten [[Wikipedia:Hydrozephalus|Hydrozephalus]] haben. Zunächst wird eine [[Wikipedia:Craniale Computertomographie|CCT]] des [[Wikipedia:Schädel|Schädel]]s durchgeführt. Man erwartet aufgrund des vermuteten Hydrozephalus sogenannte ballonierte [[Wikipedia:Hirnventrikel#Seitenventrikel|Seitenventrikel]] mit einer randständigen und bevorzugt frontalen [[Wikipedia:Hypodensität|Hypodensität]]. Da das CCT diesen Befund zeigt, wird eine therapeutisch-diagnostische Maßnahme durchgeführt: beim sog. [[Fisher-Test (Neurologie)|Fisher-Test]] wird mittels einer [[Wikipedia:Lumbalpunktion|Lumbalpunktion]] probeweise ca. 30 bis 40&nbsp;ml [[Wikipedia:Liquor cerebrospinalis|Nervenwasser]] entnommen. Diese Maßnahme sollte die Beschwerden bessern. Beim Test zeigt sich kein erhöhter Liquordruck. Etwa 10 Minuten nach der Lumbalpunktion zeigt der Patient ein gebessertes Gangbild. Seine Gedächtnisstörung wird unbeeinflusst bleiben und die [[Wikipedia:Harninkontinenz|Harninkontinenz]] wird sich später am ehesten verbessern. Der Patient wird mit der Diagnose eines [[Wikipedia:Normaldruckhydrozephalus|Normaldruckhydrozephalus]] zum [[Wikipedia:Neurochirurg|Neurochirurg]]en überwiesen zur Implantation eines [[Wikipedia:Cerebralshunt|ventrikulo-peritonealen Shuntsystems]] zum Zweck der dauerhaften Ableitung überschüssigen Nervenwassers.
    
==== Fallbeispiel II: Hirntumor ====
 
==== Fallbeispiel II: Hirntumor ====
 
[[Datei:Anaplastic oligodendroglioma (3).jpg|mini|Gewebebild eines Hirntumors]]
 
[[Datei:Anaplastic oligodendroglioma (3).jpg|mini|Gewebebild eines Hirntumors]]
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Ein 32 Jahre alter Mann wird in die Notaufnahme eines Krankenhauses gebracht, nachdem Kollegen den Patienten bewusstlos und mit einer Kopfplatzwunde am Boden liegend aufgefunden hatten. Das Zustandekommen des mutmaßlichen Sturzes und ob es zu Zuckungen oder ähnlichem gekommen ist, wurde nicht beobachtet. Dem Patienten selbst fehlt jede Erinnerung. In benommenem Zustand wird er zunächst in der Poliklinik von einem Unfallchirurgen versorgt. Dabei beklagt der Patient eine Schwäche des rechten Armes und erklärt, das sei neu. Nach der Versorgung der Kopfplatzwunde wird der Patient dem Neurologen vorgestellt, der ein Absinken im Armhalteversuch rechts feststellt. Der Neurologe zieht nun unter anderem in Betracht, dass der Patient einen Sturz im Rahmen eines generalisierten [[Epileptischer Anfall|epileptischen Anfalls]] erlitten haben könnte, wobei die [[Parese]] auch als sogenannte [[Toddsche Lähmung]] interpretiert werden könnte. Die durchgeführte CCT-Untersuchung zeigt eine links hoch[[parietal]]e runde [[Hypodensität]]. Nachdem eine neurologisch-internistische Abklärung der Gefäßrisikofaktoren negative Ergebnisse erbracht hatte und im [[Magnetresonanztomographie|MRT]] entsprechend verdächtige Strukturen gesehen worden waren, erfolgte zur Bestätigung der Verdachtsdiagnose eines Hirntumors eine Hirn[[biopsie]], mittels derer die Diagnose eines [[Astrozytom]]s gestellt werden kann.
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Ein 32 Jahre alter Mann wird in die Notaufnahme eines Krankenhauses gebracht, nachdem Kollegen den Patienten bewusstlos und mit einer Kopfplatzwunde am Boden liegend aufgefunden hatten. Das Zustandekommen des mutmaßlichen Sturzes und ob es zu Zuckungen oder ähnlichem gekommen ist, wurde nicht beobachtet. Dem Patienten selbst fehlt jede Erinnerung. In benommenem Zustand wird er zunächst in der Poliklinik von einem Unfallchirurgen versorgt. Dabei beklagt der Patient eine Schwäche des rechten Armes und erklärt, das sei neu. Nach der Versorgung der Kopfplatzwunde wird der Patient dem Neurologen vorgestellt, der ein Absinken im Armhalteversuch rechts feststellt. Der Neurologe zieht nun unter anderem in Betracht, dass der Patient einen Sturz im Rahmen eines generalisierten [[Wikipedia:Epileptischer Anfall|epileptischen Anfalls]] erlitten haben könnte, wobei die [[Wikipedia:Parese|Parese]] auch als sogenannte [[Wikipedia:Toddsche Lähmung|Toddsche Lähmung]] interpretiert werden könnte. Die durchgeführte CCT-Untersuchung zeigt eine links hoch[[Wikipedia:parietal|parietal]]e runde [[Wikipedia:Hypodensität|Hypodensität]]. Nachdem eine neurologisch-internistische Abklärung der Gefäßrisikofaktoren negative Ergebnisse erbracht hatte und im [[Wikipedia:Magnetresonanztomographie|MRT]] entsprechend verdächtige Strukturen gesehen worden waren, erfolgte zur Bestätigung der Verdachtsdiagnose eines Hirntumors eine Hirn[[Wikipedia:biopsie|biopsie]], mittels derer die Diagnose eines [[Wikipedia:Astrozytom|Astrozytom]]s gestellt werden kann.
    
==== Fallbeispiel III: Hirnstamminfarkt ====
 
==== Fallbeispiel III: Hirnstamminfarkt ====
[[Datei:Gray681.png|mini|[[Hirnstamm]] und Teile des Zwischenhirns]]
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[[Datei:Gray681.png|mini|[[Wikipedia:Hirnstamm|Hirnstamm]] und Teile des Zwischenhirns]]
 
[[Datei:Gray519.png|links|mini|Hirnversorgende Arterien]]
 
[[Datei:Gray519.png|links|mini|Hirnversorgende Arterien]]
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Eine 62 Jahre alte Frau wird mit einer plötzlich aufgetretenen Gangunsicherheit in die Notaufnahme gebracht. Sie klagt außerdem über eine neu aufgetretene „Heiserkeit“. Die Patientin ist [[Diabetes mellitus|Diabetikerin]] und leidet an [[Bluthochdruck]]. Sie berichtet, sie habe sich vor ziemlich genau einer Stunde ihr [[Insulin]] gespritzt, ihre Blutdruckmedikamente eingenommen und danach sei es ihr merkwürdig gewesen und sie sei beim Aufstehen gestürzt. Angehörige brachten sie dann sogleich in die Notaufnahme. Eine Gangprüfung zeigt, dass die Patientin nur mit Hilfe stehen kann, obgleich ihre Kraft in den Beinen unbeeinträchtigt ist. Die Inspektion zeigt, dass ihr rechtes [[Augenlid|Oberlid]] leicht herabhängt. Als der Neurologe ihr einen Spiegel vorhält, erkennt sie, dass ihr rechtes Auge „schief“ ist. Die Untersuchung zeigt ein aufgehobenes Temperaturempfinden im Bereich des linken Armes. Eine CCT des Gehirnschädels zeigt keine auffälligen Veränderungen. Bei einer [[Dopplersonographie]] der extrakraniellen hirnversorgenden Gefäße lässt sich die [[Arteria vertebralis|Vertebralarterie]] rechts nicht darstellen. Die Verdachtsdiagnose lautet [[Wallenberg-Syndrom]] infolge eines [[Hirninfarkt]]s der dorsolateralen [[Medulla oblongata]] im Versorgungsgebiet der ''[[Arteria cerebelli inferior posterior]]'' rechts aufgrund eines Verschlusses der Vertebralarterie rechts.
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Eine 62 Jahre alte Frau wird mit einer plötzlich aufgetretenen Gangunsicherheit in die Notaufnahme gebracht. Sie klagt außerdem über eine neu aufgetretene „Heiserkeit“. Die Patientin ist [[Wikipedia:Diabetes mellitus|Diabetikerin]] und leidet an [[Wikipedia:Bluthochdruck|Bluthochdruck]]. Sie berichtet, sie habe sich vor ziemlich genau einer Stunde ihr [[Wikipedia:Insulin|Insulin]] gespritzt, ihre Blutdruckmedikamente eingenommen und danach sei es ihr merkwürdig gewesen und sie sei beim Aufstehen gestürzt. Angehörige brachten sie dann sogleich in die Notaufnahme. Eine Gangprüfung zeigt, dass die Patientin nur mit Hilfe stehen kann, obgleich ihre Kraft in den Beinen unbeeinträchtigt ist. Die Inspektion zeigt, dass ihr rechtes [[Wikipedia:Augenlid|Oberlid]] leicht herabhängt. Als der Neurologe ihr einen Spiegel vorhält, erkennt sie, dass ihr rechtes Auge „schief“ ist. Die Untersuchung zeigt ein aufgehobenes Temperaturempfinden im Bereich des linken Armes. Eine CCT des Gehirnschädels zeigt keine auffälligen Veränderungen. Bei einer [[Wikipedia:Dopplersonographie|Dopplersonographie]] der extrakraniellen hirnversorgenden Gefäße lässt sich die [[Wikipedia:Arteria vertebralis|Vertebralarterie]] rechts nicht darstellen. Die Verdachtsdiagnose lautet [[Wikipedia:Wallenberg-Syndrom|Wallenberg-Syndrom]] infolge eines [[Wikipedia:Hirninfarkt|Hirninfarkt]]s der dorsolateralen [[Wikipedia:Medulla oblongata|Medulla oblongata]] im Versorgungsgebiet der ''[[Wikipedia:Arteria cerebelli inferior posterior|Arteria cerebelli inferior posterior]]'' rechts aufgrund eines Verschlusses der Vertebralarterie rechts.
    
==== Fallbeispiel IV: Meningitis ====
 
==== Fallbeispiel IV: Meningitis ====
[[Datei:Gray765.png|mini|Harte Hirnhaut ([[Dura mater]])]]
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[[Datei:Gray765.png|mini|Harte Hirnhaut ([[Wikipedia:Dura mater|Dura mater]])]]
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Ein 24 Jahre alter Mann wird in die Notaufnahme des Krankenhauses gebracht. Der Vater des Patienten berichtet, sein Sohn sei Zeitsoldat und auf Urlaub zu Hause. Am Mittag des Aufnahmetages hat er geklagt, dass es ihm schlecht ginge. Er klagt zunehmend über immer stärkere Kopfschmerzen und beginnt zu frieren. Da er nicht mehr richtig auf Ansprache reagiert, wird er in das nahe gelegene Krankenhaus gebracht. Der junge Mann macht einen schwer kranken Eindruck, er kann nicht stehen und antwortet nur mühsam auf Fragen und zittert stark. Eine rektale Temperaturmessung ergibt 39, 4&nbsp;°C. Der Neurologe führt eine körperliche Untersuchung durch: er fasst den Kopf des Patienten mit beiden Händen und bewegt ihn langsam nach rechts und links. Schon diese Bewegung bereitet dem Patienten, der mit angezogenen Beinen und leicht nach hinten gebogenem Kopf im Bett liegt, deutliche Schmerzen. Aufgrund dieser Befunde: [[Fieber]], [[Kopfschmerz]]en, [[Bewusstseinsstörung|Bewusstseinstrübung]], [[Meningismus|Nackensteifigkeit]] und der [[Anamnese]] (der Patient ist Soldat) wird die Verdachtsdiagnose einer [[Meningokokken]]-[[Meningitis]] gestellt und entsprechende Hygienemaßnahmen für das Personal angeordnet. Bereits aufgrund des Verdachts einer Meningitis wird sofort eine intravenöse [[Antibiose]] begonnen. Nach Ausschluss von Hirndruck, vorzugsweise durch Darstellung einer freien [[Cisterna ambiens]] mittels nativ-CCT, ersatzweise durch Betrachtung des Augenhintergrundes, erfolgt eine Lumbalpunktion zur Diagnosesicherung und Optimierung der Therapie.
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Ein 24 Jahre alter Mann wird in die Notaufnahme des Krankenhauses gebracht. Der Vater des Patienten berichtet, sein Sohn sei Zeitsoldat und auf Urlaub zu Hause. Am Mittag des Aufnahmetages hat er geklagt, dass es ihm schlecht ginge. Er klagt zunehmend über immer stärkere Kopfschmerzen und beginnt zu frieren. Da er nicht mehr richtig auf Ansprache reagiert, wird er in das nahe gelegene Krankenhaus gebracht. Der junge Mann macht einen schwer kranken Eindruck, er kann nicht stehen und antwortet nur mühsam auf Fragen und zittert stark. Eine rektale Temperaturmessung ergibt 39, 4&nbsp;°C. Der Neurologe führt eine körperliche Untersuchung durch: er fasst den Kopf des Patienten mit beiden Händen und bewegt ihn langsam nach rechts und links. Schon diese Bewegung bereitet dem Patienten, der mit angezogenen Beinen und leicht nach hinten gebogenem Kopf im Bett liegt, deutliche Schmerzen. Aufgrund dieser Befunde: [[Wikipedia:Fieber|Fieber]], [[Wikipedia:Kopfschmerz|Kopfschmerz]]en, [[Wikipedia:Bewusstseinsstörung|Bewusstseinstrübung]], [[Wikipedia:Meningismus|Nackensteifigkeit]] und der [[Wikipedia:Anamnese|Anamnese]] (der Patient ist Soldat) wird die Verdachtsdiagnose einer [[Wikipedia:Meningokokken|Meningokokken]]-[[Wikipedia:Meningitis|Meningitis]] gestellt und entsprechende Hygienemaßnahmen für das Personal angeordnet. Bereits aufgrund des Verdachts einer Meningitis wird sofort eine intravenöse [[Wikipedia:Antibiose|Antibiose]] begonnen. Nach Ausschluss von Hirndruck, vorzugsweise durch Darstellung einer freien [[Wikipedia:Cisterna ambiens|Cisterna ambiens]] mittels nativ-CCT, ersatzweise durch Betrachtung des Augenhintergrundes, erfolgt eine Lumbalpunktion zur Diagnosesicherung und Optimierung der Therapie.
    
=== Das stufenweise Vorgehen zur Diagnosestellung in der Neurologie ===
 
=== Das stufenweise Vorgehen zur Diagnosestellung in der Neurologie ===
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==== Erster Schritt: Anamnese, klinische Symptome, klinische Zeichen, technische Befunde ====
 
==== Erster Schritt: Anamnese, klinische Symptome, klinische Zeichen, technische Befunde ====
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Bei der Anamnese ist die Zeitdimension wichtig (s.&nbsp;a. [[Krankheitsverlauf]]):
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Bei der Anamnese ist die Zeitdimension wichtig (s.&nbsp;a. [[Wikipedia:Krankheitsverlauf|Krankheitsverlauf]]):
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* ''Perakut'' beim [[Krampfanfall]], der Patient stürzt aus voller Gesundheit.
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* ''Perakut'' beim [[Wikipedia:Krampfanfall|Krampfanfall]], der Patient stürzt aus voller Gesundheit.
* ''Akut'' beim [[Ischämie|ischämischen]] (durch verminderte Durchblutung) Hirninfarkt, innerhalb weniger Minuten stellen sich die Gangunsicherheit und die Heiserkeit ein.
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* ''Akut'' beim [[Wikipedia:Ischämie|ischämischen]] (durch verminderte Durchblutung) Hirninfarkt, innerhalb weniger Minuten stellen sich die Gangunsicherheit und die Heiserkeit ein.
 
* ''Subakut'' bei der Meningitis, innerhalb von Stunden entwickelt sich ein äußerst schweres Krankheitsbild.
 
* ''Subakut'' bei der Meningitis, innerhalb von Stunden entwickelt sich ein äußerst schweres Krankheitsbild.
 
* ''Chronisch'' beim Normaldruckhydrozephalus, die Beschwerden entwickeln sich über Monate oder Jahre schleichend.
 
* ''Chronisch'' beim Normaldruckhydrozephalus, die Beschwerden entwickeln sich über Monate oder Jahre schleichend.
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* Der Armhalteversuch bei dem jungen Mann mit dem Krampfanfall.
 
* Der Armhalteversuch bei dem jungen Mann mit dem Krampfanfall.
* Die Testung der Temperatursensibilität bei der alten Frau mit Standunfähigkeit, Heiserkeit und schiefem Auge (man hält einfach den Metallgriff vom [[Reflexhammer]] unter das kalte Wasser des Waschbeckens und gibt ihn der Patientin zunächst in die linke und dann in die rechte Hand, die Patienten merken sofort den Unterschied).
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* Die Testung der Temperatursensibilität bei der alten Frau mit Standunfähigkeit, Heiserkeit und schiefem Auge (man hält einfach den Metallgriff vom [[Wikipedia:Reflexhammer|Reflexhammer]] unter das kalte Wasser des Waschbeckens und gibt ihn der Patientin zunächst in die linke und dann in die rechte Hand, die Patienten merken sofort den Unterschied).
 
* Die sehr vorsichtige Drehung des Kopfes bei dem Meningitispatient.
 
* Die sehr vorsichtige Drehung des Kopfes bei dem Meningitispatient.
 
* Die Gangprüfung bei dem alten Mann: „Gehen Sie bitte durch das Zimmer.“
 
* Die Gangprüfung bei dem alten Mann: „Gehen Sie bitte durch das Zimmer.“
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* Der CCT-Befund bei dem jungen Mann ist nur an der Oberfläche zweideutig: eine runde Hypodensität spricht immer für einen Tumor. Irritierend ist in diesem Fall, dass der Patient gesagt hat, die Armlähmung käme plötzlich.
 
* Der CCT-Befund bei dem jungen Mann ist nur an der Oberfläche zweideutig: eine runde Hypodensität spricht immer für einen Tumor. Irritierend ist in diesem Fall, dass der Patient gesagt hat, die Armlähmung käme plötzlich.
* Der unauffällige CCT-Befund ist insofern ungewöhnlich, als bei den vorliegenden Risikofaktoren häufig asymptomatische ältere [[Läsion]]en an verschiedenen Stellen des Gehirns zu finden sind. Die aktuelle im Bereich des [[Hirnstamm]]s zu vermutende Läsion ist im CCT jedoch meist nicht sichtbar.
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* Der unauffällige CCT-Befund ist insofern ungewöhnlich, als bei den vorliegenden Risikofaktoren häufig asymptomatische ältere [[Wikipedia:Läsion|Läsion]]en an verschiedenen Stellen des Gehirns zu finden sind. Die aktuelle im Bereich des [[Wikipedia:Hirnstamm|Hirnstamm]]s zu vermutende Läsion ist im CCT jedoch meist nicht sichtbar.
 
* Im Falle des jungen Mannes mit der Meningitis braucht man unbedingt eine Liquorkultur zum Erregernachweis. Die Entscheidung über Diagnose und Therapie trifft man aber ohne jede technische Diagnostik (außer Fiebermessen).
 
* Im Falle des jungen Mannes mit der Meningitis braucht man unbedingt eine Liquorkultur zum Erregernachweis. Die Entscheidung über Diagnose und Therapie trifft man aber ohne jede technische Diagnostik (außer Fiebermessen).
 
* Der CCT-Befund bei dem alten Mann mit dem „magnetischen“ Gang ist eine gute Unterstützung für die Anfangshypothese, aber zu unspezifisch.
 
* Der CCT-Befund bei dem alten Mann mit dem „magnetischen“ Gang ist eine gute Unterstützung für die Anfangshypothese, aber zu unspezifisch.
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==== Zweiter Schritt: Interpretation der gewonnenen Daten in physiologischen und anatomischen Begriffen ====
 
==== Zweiter Schritt: Interpretation der gewonnenen Daten in physiologischen und anatomischen Begriffen ====
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Der junge Mann mit der Kopfplatzwunde hat eine Armlähmung. Anhand der Reflexprüfung kann man feststellen, ob die [[Lähmung]] zentral oder peripher ist: Wenn die Muskeldehnungs-Reflexe im rechten Arm abgeschwächt sind, spricht dies für eine Schädigung im Verlauf der Nerven außerhalb des Rückenmarkskanales (periphere Läsion). Wenn die Reflexe betont sind, dann spricht dies für eine Schädigung im Bereich von Rückenmark oder Gehirn (zentrale Läsion).
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Der junge Mann mit der Kopfplatzwunde hat eine Armlähmung. Anhand der Reflexprüfung kann man feststellen, ob die [[Wikipedia:Lähmung|Lähmung]] zentral oder peripher ist: Wenn die Muskeldehnungs-Reflexe im rechten Arm abgeschwächt sind, spricht dies für eine Schädigung im Verlauf der Nerven außerhalb des Rückenmarkskanales (periphere Läsion). Wenn die Reflexe betont sind, dann spricht dies für eine Schädigung im Bereich von Rückenmark oder Gehirn (zentrale Läsion).
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Die alte Dame mit der Sprechstörung hat eine so genannte „gekreuzte“ Symptomatik: das herabhängende Oberlid ''rechts'' (ein [[Horner-Syndrom]]) und die Störung der Temperatursensibilität ''links''. Eine „gekreuzte“ Symptomatik ist aufgrund anatomischer Verhältnisse typisch für den Hirnstamm. Die hintere kleine Kleinhirnarterie ist häufig betroffen.
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Die alte Dame mit der Sprechstörung hat eine so genannte „gekreuzte“ Symptomatik: das herabhängende Oberlid ''rechts'' (ein [[Wikipedia:Horner-Syndrom|Horner-Syndrom]]) und die Störung der Temperatursensibilität ''links''. Eine „gekreuzte“ Symptomatik ist aufgrund anatomischer Verhältnisse typisch für den Hirnstamm. Die hintere kleine Kleinhirnarterie ist häufig betroffen.
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Der zielführende Hinweis bei dem fiebrigen jungen Mann ist seine gekrümmte Haltung beim Liegen, die typisch für eine Reizung der [[Meningen|Hirn- und Rückenmarkshäute]] ist. Wenn der Patient auch Fieber hat, ist es naheliegend, dass die Reizung der Hirnhäute eine (meist bakterielle) infektiöse Ursache hat. Die Tatsache, dass der junge Mann Soldat ist, untermauert die Vermutung, dass eine Meningokokken-Meningitis vorliegt.
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Der zielführende Hinweis bei dem fiebrigen jungen Mann ist seine gekrümmte Haltung beim Liegen, die typisch für eine Reizung der [[Wikipedia:Meningen|Hirn- und Rückenmarkshäute]] ist. Wenn der Patient auch Fieber hat, ist es naheliegend, dass die Reizung der Hirnhäute eine (meist bakterielle) infektiöse Ursache hat. Die Tatsache, dass der junge Mann Soldat ist, untermauert die Vermutung, dass eine Meningokokken-Meningitis vorliegt.
    
==== Dritter Schritt: Syndromale Formulierung und anatomische Diagnose ====
 
==== Dritter Schritt: Syndromale Formulierung und anatomische Diagnose ====
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Eine isolierte zentrale Armlähmung bei dem jungen Mann mit der Kopfplatzwunde ist eher ungewöhnlich. Wahrscheinlich hat der Neurologe den Patienten nicht sorgfältig untersucht und die diskrete, zentral bedingte [[Lähmung]] der [[Mimische Muskulatur|mimischen Muskulatur]] (siehe [[Fazialislähmung]]) rechts und möglicherweise eine leichte aphasische Störung übersehen. Entscheidend ist aber, dass man schnell und sicher zum Ziel kommt. Die Kombination von erstmaligem Krampfanfall bei einem ca. 30 Jahre alten Mann und dem geschilderten CCT-Befund ist hochverdächtig auf ein Astrozytom.
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Eine isolierte zentrale Armlähmung bei dem jungen Mann mit der Kopfplatzwunde ist eher ungewöhnlich. Wahrscheinlich hat der Neurologe den Patienten nicht sorgfältig untersucht und die diskrete, zentral bedingte [[Wikipedia:Lähmung|Lähmung]] der [[Wikipedia:Mimische Muskulatur|mimischen Muskulatur]] (siehe [[Wikipedia:Fazialislähmung|Fazialislähmung]]) rechts und möglicherweise eine leichte aphasische Störung übersehen. Entscheidend ist aber, dass man schnell und sicher zum Ziel kommt. Die Kombination von erstmaligem Krampfanfall bei einem ca. 30 Jahre alten Mann und dem geschilderten CCT-Befund ist hochverdächtig auf ein Astrozytom.
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Die alte Dame mit dem Hirnstamminfarkt ist ein Musterbeispiel für die so genannte topische Diagnostik in der Neurologie. Die Kombination eines Hornersyndroms mit einer kontralateralen Störung der Temperaturempfindlichkeit deutet immer auf den Hirnstamm und dort in den Bereich der Medulla oblongata. Entscheidend für das Verständnis der Störung ist, dass im Bereich des Hirnstamms einerseits [[Nucleus (ZNS)|Kerngebiete]] der [[Hirnnerv]]en liegen und andererseits Bahnen für [[Motorik]] und [[Sensibilität (Medizin)|Sensibilität]]. Die enge Nachbarschaft dieser Strukturen an dieser Stelle im Gehirn führt zu Störungen in weit entfernten Körperteilen, die von diesen Strukturen versorgt werden.
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Die alte Dame mit dem Hirnstamminfarkt ist ein Musterbeispiel für die so genannte topische Diagnostik in der Neurologie. Die Kombination eines Hornersyndroms mit einer kontralateralen Störung der Temperaturempfindlichkeit deutet immer auf den Hirnstamm und dort in den Bereich der Medulla oblongata. Entscheidend für das Verständnis der Störung ist, dass im Bereich des Hirnstamms einerseits [[Wikipedia:Nucleus (ZNS)|Kerngebiete]] der [[Wikipedia:Hirnnerv|Hirnnerv]]en liegen und andererseits Bahnen für [[Wikipedia:Motorik|Motorik]] und [[Wikipedia:Sensibilität (Medizin)|Sensibilität]]. Die enge Nachbarschaft dieser Strukturen an dieser Stelle im Gehirn führt zu Störungen in weit entfernten Körperteilen, die von diesen Strukturen versorgt werden.
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Der fiebrige junge Mann hat keine [[Läsion]] an einer bestimmten Stelle im Nervensystem, er hat eine Störung an einem ganzen Organsystem, nämlich den gesamten Hirnhäuten. Das bedingt auch die Schwere der Erkrankung und die große Gefahr für zahlreiche Komplikationen wie generalisierte Krampfanfälle, [[Koma]] und [[Atemlähmung]].
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Der fiebrige junge Mann hat keine [[Wikipedia:Läsion|Läsion]] an einer bestimmten Stelle im Nervensystem, er hat eine Störung an einem ganzen Organsystem, nämlich den gesamten Hirnhäuten. Das bedingt auch die Schwere der Erkrankung und die große Gefahr für zahlreiche Komplikationen wie generalisierte Krampfanfälle, [[Wikipedia:Koma|Koma]] und [[Wikipedia:Atemlähmung|Atemlähmung]].
    
==== Vierter Schritt: Pathologische oder ätiologische Diagnose ====
 
==== Vierter Schritt: Pathologische oder ätiologische Diagnose ====
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Bei dem jungen Mann mit der Kopfplatzwunde stellt der Neurologe eigentlich keine endgültige Diagnose. Die abschließende (pathologische oder ätiologische) Diagnose wird in diesem Fall von dem [[Pathologe]]n aufgrund einer Hirnbiopsie gestellt. Die Aufgabe des Neurologen ist es, den Weg dorthin zu bahnen.
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Bei dem jungen Mann mit der Kopfplatzwunde stellt der Neurologe eigentlich keine endgültige Diagnose. Die abschließende (pathologische oder ätiologische) Diagnose wird in diesem Fall von dem [[Wikipedia:Pathologe|Pathologe]]n aufgrund einer Hirnbiopsie gestellt. Die Aufgabe des Neurologen ist es, den Weg dorthin zu bahnen.
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Die ätiologische Diagnose im Falle der älteren Dame ist vermutlich ein [[Embolie|embolischer]] Verschluss einer [[Blutversorgung des Gehirns|Hirnarterie]] aufgrund von [[Arteriosklerose|arteriosklerotischen]] Veränderungen in der vorgeschalteten Strombahn mit der Folge eines ischämischen Infarktes des durch das Gefäß ursprünglich versorgten Gehirnareals. Möglich wäre auch ein sogenannter Grenzzonen-Infarkt aufgrund einer durch Arteriosklerose verursachten Lumenminderung ([[Stenose]]) der vorgeschalteten Gefäße.
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Die ätiologische Diagnose im Falle der älteren Dame ist vermutlich ein [[Wikipedia:Embolie|embolischer]] Verschluss einer [[Wikipedia:Blutversorgung des Gehirns|Hirnarterie]] aufgrund von [[Wikipedia:Arteriosklerose|arteriosklerotischen]] Veränderungen in der vorgeschalteten Strombahn mit der Folge eines ischämischen Infarktes des durch das Gefäß ursprünglich versorgten Gehirnareals. Möglich wäre auch ein sogenannter Grenzzonen-Infarkt aufgrund einer durch Arteriosklerose verursachten Lumenminderung ([[Wikipedia:Stenose|Stenose]]) der vorgeschalteten Gefäße.
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Die durch die Infektion und die Abwehrreaktion des Körpers freigesetzten [[Bakterien]]-[[Toxin]]e sind im Falle einer Meningitis die Ursache für die dramatischen Krankheitsverläufe, die unbehandelt mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit zum Tode führen.
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Die durch die Infektion und die Abwehrreaktion des Körpers freigesetzten [[Wikipedia:Bakterien|Bakterien]]-[[Wikipedia:Toxin|Toxin]]e sind im Falle einer Meningitis die Ursache für die dramatischen Krankheitsverläufe, die unbehandelt mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit zum Tode führen.
    
==== Zusammenfassung aller Schritte: Die klinische Methode kurzgefasst ====
 
==== Zusammenfassung aller Schritte: Die klinische Methode kurzgefasst ====
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'''Anamnese''': Ein Mann stellt sich in der Notaufnahme vor und erklärt, er habe seit etwa einer Stunde das Gefühl, in seinem Gesicht sei etwas nicht in Ordnung. Der Mann ist 65 Jahre alt, er ist Raucher und leidet an einem Bluthochdruck.
 
'''Anamnese''': Ein Mann stellt sich in der Notaufnahme vor und erklärt, er habe seit etwa einer Stunde das Gefühl, in seinem Gesicht sei etwas nicht in Ordnung. Der Mann ist 65 Jahre alt, er ist Raucher und leidet an einem Bluthochdruck.
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'''Körperliche Untersuchung''': Der Neurologe bittet ihn, beide Augen fest zu schließen und die „Zähne zu zeigen“. Der Lidschluss ist beidseits vollständig, das [[Grimasse|Grimassieren]] des Mundes gelingt aber nur auf der rechten Seite.
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'''Körperliche Untersuchung''': Der Neurologe bittet ihn, beide Augen fest zu schließen und die „Zähne zu zeigen“. Der Lidschluss ist beidseits vollständig, das [[Wikipedia:Grimasse|Grimassieren]] des Mundes gelingt aber nur auf der rechten Seite.
    
'''Umformung der Befunde in neurophysiologische Termini''':
 
'''Umformung der Befunde in neurophysiologische Termini''':
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'''Syndromale Formulierung im Sinne einer neurologisch topischen Diagnose''':
 
'''Syndromale Formulierung im Sinne einer neurologisch topischen Diagnose''':
Die Lokalisation der gestörten Hirnregion lässt sich weiter eingrenzen, indem der Neurologe den Patienten beide Arme mit geschlossenen Augen vor sich halten lässt: der linke Arm zeigt eine Einwärtsdrehung. Beide Beine sind in der neurologischen Untersuchung unauffällig. Der Neurologe vermutet den Ort der Läsion in der rechten [[Großhirn]]<nowiki />hemisphäre in der sogenannten [[Gyrus praecentralis|Präzentralregion]].
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Die Lokalisation der gestörten Hirnregion lässt sich weiter eingrenzen, indem der Neurologe den Patienten beide Arme mit geschlossenen Augen vor sich halten lässt: der linke Arm zeigt eine Einwärtsdrehung. Beide Beine sind in der neurologischen Untersuchung unauffällig. Der Neurologe vermutet den Ort der Läsion in der rechten [[Wikipedia:Großhirn|Großhirn]]<nowiki />hemisphäre in der sogenannten [[Wikipedia:Gyrus praecentralis|Präzentralregion]].
    
'''Ätiologische Diagnose''':
 
'''Ätiologische Diagnose''':
Da der Patient Gefäßrisikofaktoren hat (Alter, Rauchen, Hypertonie) wird eine Durchblutungsstörung im Versorgungsgebiet der ''[[Arteria cerebri media]]'' rechts vermutet. Diese Vermutung kann durch bildgebende Untersuchungen des Gehirns und vor allem eine Gefäßdarstellung bestätigt oder widerlegt werden.
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Da der Patient Gefäßrisikofaktoren hat (Alter, Rauchen, Hypertonie) wird eine Durchblutungsstörung im Versorgungsgebiet der ''[[Wikipedia:Arteria cerebri media|Arteria cerebri media]]'' rechts vermutet. Diese Vermutung kann durch bildgebende Untersuchungen des Gehirns und vor allem eine Gefäßdarstellung bestätigt oder widerlegt werden.
    
Die '''Behandlung''' erfolgt dann nach den Therapierichtlinien für Hirninfarktpatienten.
 
Die '''Behandlung''' erfolgt dann nach den Therapierichtlinien für Hirninfarktpatienten.
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=== Zusammenfassung der Diagnosestellung ===
 
=== Zusammenfassung der Diagnosestellung ===
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Die klinische Methode in der Neurologie kann man folgendermaßen beschreiben: Es werden Daten durch Befragung des Patienten oder seiner Angehörigen über die Vorgeschichte sowie durch eine körperliche Untersuchung gesammelt. Diese Daten werden aufgrund [[Physiologie|physiologischer]] und [[Anatomie|anatomischer]] Kenntnisse interpretiert und eine Hypothese formuliert (anatomische Diagnose). Daraufhin werden gezielte technische Untersuchungen durchgeführt um die Hypothese zu bestätigen oder zu widerlegen. Dies führt zu einer abschließenden pathologischen oder ätiologischen Diagnose, die meistens auch einen genau definierten Namen hat. Auf der Grundlage geprüfter Erfahrungswerte aus klinischen Studien wird dann mit den Patienten eine [[Therapie]] vereinbart.
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Die klinische Methode in der Neurologie kann man folgendermaßen beschreiben: Es werden Daten durch Befragung des Patienten oder seiner Angehörigen über die Vorgeschichte sowie durch eine körperliche Untersuchung gesammelt. Diese Daten werden aufgrund [[Wikipedia:Physiologie|physiologischer]] und [[Anatomie|anatomischer]] Kenntnisse interpretiert und eine Hypothese formuliert (anatomische Diagnose). Daraufhin werden gezielte technische Untersuchungen durchgeführt um die Hypothese zu bestätigen oder zu widerlegen. Dies führt zu einer abschließenden pathologischen oder ätiologischen Diagnose, die meistens auch einen genau definierten Namen hat. Auf der Grundlage geprüfter Erfahrungswerte aus klinischen Studien wird dann mit den Patienten eine [[Therapie]] vereinbart.
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In älteren Lehrbüchern der Neurologie findet man zu diesem Hauptprinzip der Neurologie gelegentlich einfache Merksätze wie zum Beispiel „Das Prinzip der sechs W“ nach [[Marco Mumenthaler|Mumenthaler]]:
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In älteren Lehrbüchern der Neurologie findet man zu diesem Hauptprinzip der Neurologie gelegentlich einfache Merksätze wie zum Beispiel „Das Prinzip der sechs W“ nach [[Wikipedia:Marco Mumenthaler|Mumenthaler]]:
    
* '''W'''ie kam es zur Erkrankung? (Anamnese)
 
* '''W'''ie kam es zur Erkrankung? (Anamnese)
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[[Datei:Telencephalon-Horiconatal.jpg|mini|Putamen (dunkelblau) als Teil der Basalganglien]]
 
[[Datei:Telencephalon-Horiconatal.jpg|mini|Putamen (dunkelblau) als Teil der Basalganglien]]
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Ein zehn Jahre altes Kind wird in benommenem Zustand und mit einer Kopfplatzwunde in die Notaufnahme eines Krankenhauses gebracht. Die Ursache des Sturzes ist zunächst unklar. Noch in der Notaufnahme erleidet das Kind einen Krampfanfall. Da dieser nicht abklingt, wird der Patient notfallmäßig intubiert und beatmet und der Anfallsstatus mittels einer Narkose unterbrochen. Der hinzugezogene Neurologe vermutet eine [[Enzephalitis]]. Eine CCT- und eine Liquoruntersuchung ergeben keinen wegweisenden Befund. Das Kind wird zunächst auf einer Intensivstation weiter beatmet. Bei Versuchen die Narkosetiefe zu reduzieren, treten erneut Krampfanfälle auf.
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Ein zehn Jahre altes Kind wird in benommenem Zustand und mit einer Kopfplatzwunde in die Notaufnahme eines Krankenhauses gebracht. Die Ursache des Sturzes ist zunächst unklar. Noch in der Notaufnahme erleidet das Kind einen Krampfanfall. Da dieser nicht abklingt, wird der Patient notfallmäßig intubiert und beatmet und der Anfallsstatus mittels einer Narkose unterbrochen. Der hinzugezogene Neurologe vermutet eine [[Wikipedia:Enzephalitis|Enzephalitis]]. Eine CCT- und eine Liquoruntersuchung ergeben keinen wegweisenden Befund. Das Kind wird zunächst auf einer Intensivstation weiter beatmet. Bei Versuchen die Narkosetiefe zu reduzieren, treten erneut Krampfanfälle auf.
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Um die Situation zu klären wird ein weiterer Neurologe zu Rate gezogen. Dieser erhebt zunächst eine ausführliche Anamnese. Die Verdachtsdiagnose lautet „Enzephalitis“ und die Aufgabe besteht darin, einen möglichen Erreger zu finden. Die Angehörigen machen folgende Angaben: es gab keine Auslandsreise, das Kind hat eine Katze als Haustier und ein Geschwister starb an den Folgen einer HIV-Erkrankung. Die allgemeine körperliche Untersuchung ergab folgendes: eine axilläre Lymphknotenschwellung rechts und eine beidseitige [[Konjunktivitis]]. Diese Befundkonstellation lässt folgende Verdachtsdiagnose zu: Enzephalitis durch den Erreger der [[Katzenkratzkrankheit]] (''[[Bartonella henselae]]''). Diese Vermutung konnte durch serologische Untersuchungen des Liquors und den Nachweis enzephalitischer Herde im [[Putamen]] mittels [[Kernspintomographie]] bestätigt werden. Die Therapie besteht in der Gabe von [[Makrolidantibiotikum|Makrolidantibiotika]], [[Cotrimoxazol]] oder [[Rimfampizin]]. Das Kind erholt sich und die Erkrankung heilt ohne Folgen aus.
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Um die Situation zu klären wird ein weiterer Neurologe zu Rate gezogen. Dieser erhebt zunächst eine ausführliche Anamnese. Die Verdachtsdiagnose lautet „Enzephalitis“ und die Aufgabe besteht darin, einen möglichen Erreger zu finden. Die Angehörigen machen folgende Angaben: es gab keine Auslandsreise, das Kind hat eine Katze als Haustier und ein Geschwister starb an den Folgen einer HIV-Erkrankung. Die allgemeine körperliche Untersuchung ergab folgendes: eine axilläre Lymphknotenschwellung rechts und eine beidseitige [[Wikipedia:Konjunktivitis|Konjunktivitis]]. Diese Befundkonstellation lässt folgende Verdachtsdiagnose zu: Enzephalitis durch den Erreger der [[Wikipedia:Katzenkratzkrankheit|Katzenkratzkrankheit]] (''[[Wikipedia:Bartonella henselae|Bartonella henselae]]''). Diese Vermutung konnte durch serologische Untersuchungen des Liquors und den Nachweis enzephalitischer Herde im [[Wikipedia:Putamen|Putamen]] mittels [[Wikipedia:Kernspintomographie|Kernspintomographie]] bestätigt werden. Die Therapie besteht in der Gabe von [[Wikipedia:Makrolidantibiotikum|Makrolidantibiotika]], [[Wikipedia:Cotrimoxazol|Cotrimoxazol]] oder [[Rimfampizin]]. Das Kind erholt sich und die Erkrankung heilt ohne Folgen aus.
    
Der Fehler bestand darin, dass in der akuten Situation und auch später keine ausführliche Anamnese gemacht wurde. In diesem Fall geben nur die Anamnese und die nicht-neurologischen Untersuchungsbefunde Hinweise, die zum Erreger und zur Diagnose einer Bartonellen-Enzephalitis führen (Katze als Haustier, axilläre oder zervikale Lymphknotenschwellung). Die auffällige beidseitige Konjunktivitis ist eine Begleiterscheinung dieser seltenen Enzephalitis (weltweit sind nur ein paar Dutzend Fälle beschrieben).
 
Der Fehler bestand darin, dass in der akuten Situation und auch später keine ausführliche Anamnese gemacht wurde. In diesem Fall geben nur die Anamnese und die nicht-neurologischen Untersuchungsbefunde Hinweise, die zum Erreger und zur Diagnose einer Bartonellen-Enzephalitis führen (Katze als Haustier, axilläre oder zervikale Lymphknotenschwellung). Die auffällige beidseitige Konjunktivitis ist eine Begleiterscheinung dieser seltenen Enzephalitis (weltweit sind nur ein paar Dutzend Fälle beschrieben).
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[[Datei:Gray513.png|mini|Hirnversorgende Gefäße (u.&nbsp;a. Arteria carotis interna)]]
 
[[Datei:Gray513.png|mini|Hirnversorgende Gefäße (u.&nbsp;a. Arteria carotis interna)]]
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Ein etwa 35 Jahre alter Mann wird mit den Zeichen eines akuten ischämischen Hirninfarktes in die Klinik eingeliefert. Nach Angaben von Arbeitskollegen sei er gestürzt, klagte dann plötzlich über Unwohlsein und sprach undeutlich. In der Aufnahmesituation zeigt der Patient eine Arm- und Gesichtslähmung rechts, er ist benommen und aphasisch. Das Ereignis ist weniger als 45 min alt. Eine CCT-Untersuchung zeigt in dieser Phase noch keine Frühzeichen eines Hirninfarktes, wird aber zum Ausschluss einer Hirnblutung durchgeführt. Eine [[Ultraschalluntersuchung|doppler- und duplexsonographische]] Untersuchung der Halsgefäße zeigt Hinweise für einen Verschluss der [[Arteria carotis interna]] (ACI) links. Die Diagnose lautet: Verschluss der ACI links mit ischämischem Hirninfarkt im Mediastromgebiet links. Es wird eine [[Lysetherapie]] eingeleitet. Lähmung und Sprachstörung bilden sich völlig zurück. Dopplersonographisch zeigt sich weiterhin eine hochgradige Strömungsbehinderung der ACI links. Der Patient hat allerdings keine Gefäßrisikofaktoren. Aus diesem Grund wird die Anamnese noch einmal überprüft. Dabei berichtet der Patient, er sei kurz vor dem Ereignis gestürzt und sehr unglücklich mit der linken Halsseite gegen eine Tischkante gefallen. Die Verdachtsdiagnose einer [[Dissektion (Arterie)|Dissektion]] der Arteria carotis interna wird durch eine Kernspintomographie der Halsgefäße bestätigt.
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Ein etwa 35 Jahre alter Mann wird mit den Zeichen eines akuten ischämischen Hirninfarktes in die Klinik eingeliefert. Nach Angaben von Arbeitskollegen sei er gestürzt, klagte dann plötzlich über Unwohlsein und sprach undeutlich. In der Aufnahmesituation zeigt der Patient eine Arm- und Gesichtslähmung rechts, er ist benommen und aphasisch. Das Ereignis ist weniger als 45 min alt. Eine CCT-Untersuchung zeigt in dieser Phase noch keine Frühzeichen eines Hirninfarktes, wird aber zum Ausschluss einer Hirnblutung durchgeführt. Eine [[Wikipedia:Ultraschalluntersuchung|doppler- und duplexsonographische]] Untersuchung der Halsgefäße zeigt Hinweise für einen Verschluss der [[Wikipedia:Arteria carotis interna|Arteria carotis interna]] (ACI) links. Die Diagnose lautet: Verschluss der ACI links mit ischämischem Hirninfarkt im Mediastromgebiet links. Es wird eine [[Wikipedia:Lysetherapie|Lysetherapie]] eingeleitet. Lähmung und Sprachstörung bilden sich völlig zurück. Dopplersonographisch zeigt sich weiterhin eine hochgradige Strömungsbehinderung der ACI links. Der Patient hat allerdings keine Gefäßrisikofaktoren. Aus diesem Grund wird die Anamnese noch einmal überprüft. Dabei berichtet der Patient, er sei kurz vor dem Ereignis gestürzt und sehr unglücklich mit der linken Halsseite gegen eine Tischkante gefallen. Die Verdachtsdiagnose einer [[Dissektion (Arterie)|Dissektion]] der Arteria carotis interna wird durch eine Kernspintomographie der Halsgefäße bestätigt.
    
Der Fehler bestand darin, den Begleiter des Patienten nicht ausführlich nach den Umständen des Sturzes befragt zu haben.
 
Der Fehler bestand darin, den Begleiter des Patienten nicht ausführlich nach den Umständen des Sturzes befragt zu haben.
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Auch für Tierärzte stellt die Neurologie eine große Herausforderung dar, denn neben der großen Komplexität des Nervensystems wird er mit zusätzlichen Handicaps belastet. Zum einen ist er, im Gegensatz zum Humanneurologen, nur in den seltensten Fällen Spezialist, der „nur“ neurologische Fälle zu behandeln hat.
 
Auch für Tierärzte stellt die Neurologie eine große Herausforderung dar, denn neben der großen Komplexität des Nervensystems wird er mit zusätzlichen Handicaps belastet. Zum einen ist er, im Gegensatz zum Humanneurologen, nur in den seltensten Fällen Spezialist, der „nur“ neurologische Fälle zu behandeln hat.
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Ein weiteres Problem stellt das große Artenspektrum dar. Erkenntnisse aus der Humanmedizin lassen sich nur für wenige Erkrankungen übertragen, da andere [[Säugetiere]], [[Vögel]] oder gar [[Reptilien]] deutliche neuroanatomische und -funktionelle Differenzen aufweisen und das klinische Bild einer bestimmten neurologischen Erkrankung je nach Art erheblich abweichen kann. Selbst ein schwerer Schlaganfall mit komplettem Ausfall des Versorgungsgebiets der [[Arteria cerebri media]], der beim Menschen eine komplette [[Hemiplegie|Halbseitenlähmung]] verursacht, führt bei einem Schaf lediglich zu milden Störungen der Haltungsreflexe, aber kaum zur Beeinträchtigung des Gangbildes. Am auffälligsten ist noch ein [[Torticollis|Schiefhals]], der aber auch viele andere Ursachen haben kann. Dies ist in den Unterschieden hinsichtlich der Kreuzung der Pyramidenbahn und der ganz unterschiedlichen Bedeutung des [[Pyramidales System|pyramidalen]] und des [[Extrapyramidalmotorisches System|extrapyramidalen Systems]] für die Bewegungsmuster begründet.
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Ein weiteres Problem stellt das große Artenspektrum dar. Erkenntnisse aus der Humanmedizin lassen sich nur für wenige Erkrankungen übertragen, da andere [[Wikipedia:Säugetiere|Säugetiere]], [[Wikipedia:Vögel|Vögel]] oder gar [[Wikipedia:Reptilien|Reptilien]] deutliche neuroanatomische und -funktionelle Differenzen aufweisen und das klinische Bild einer bestimmten neurologischen Erkrankung je nach Art erheblich abweichen kann. Selbst ein schwerer Schlaganfall mit komplettem Ausfall des Versorgungsgebiets der [[Wikipedia:Arteria cerebri media|Arteria cerebri media]], der beim Menschen eine komplette [[Wikipedia:Hemiplegie|Halbseitenlähmung]] verursacht, führt bei einem Schaf lediglich zu milden Störungen der Haltungsreflexe, aber kaum zur Beeinträchtigung des Gangbildes. Am auffälligsten ist noch ein [[Wikipedia:Torticollis|Schiefhals]], der aber auch viele andere Ursachen haben kann. Dies ist in den Unterschieden hinsichtlich der Kreuzung der Pyramidenbahn und der ganz unterschiedlichen Bedeutung des [[Wikipedia:Pyramidales System|pyramidalen]] und des [[Wikipedia:Extrapyramidalmotorisches System|extrapyramidalen Systems]] für die Bewegungsmuster begründet.
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Die neuroanatomische Vielfalt ist außerdem dafür verantwortlich, dass viele neurologische Erkrankungen bei Tieren nur ungenügend erforscht sind. Die Tierneurologie ist eine relativ junge Wissenschaft, mit nur wenigen ausgewiesenen Spezialisten und geringen Budgets, die allenfalls die wichtigsten Erkrankungen und dies auch nur bei den am weitesten verbreiteten Vertretern der Haustiere (vor allem [[Hauspferd|Pferd]] und [[Haushund|Hund]]) intensiver erforschen kann. Bei exotischen Tierarten muss der Tierarzt immer von ihm bekannten Spezies extrapolieren.
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Die neuroanatomische Vielfalt ist außerdem dafür verantwortlich, dass viele neurologische Erkrankungen bei Tieren nur ungenügend erforscht sind. Die Tierneurologie ist eine relativ junge Wissenschaft, mit nur wenigen ausgewiesenen Spezialisten und geringen Budgets, die allenfalls die wichtigsten Erkrankungen und dies auch nur bei den am weitesten verbreiteten Vertretern der Haustiere (vor allem [[Wikipedia:Hauspferd|Pferd]] und [[Wikipedia:Haushund|Hund]]) intensiver erforschen kann. Bei exotischen Tierarten muss der Tierarzt immer von ihm bekannten Spezies extrapolieren.
    
Ein weiteres Problem stellt die begrenzte Kommunikation dar. In der Humanneurologie ist die intensive Befragung des Patienten, die Anamnese, ein wichtiges Element der Diagnostik. Ein Tier kann dem Tierarzt natürlich nur wenig mitteilen, eine Befragung vor und während der Diagnostik ist nicht möglich. Der Tierarzt ist auf die Beobachtungsgabe des Tierbesitzers angewiesen, manchmal auch seiner Phantasie ausgesetzt. Das Tier kann zwar Schmerzäußerungen machen, aber schon diese sind nicht nur zwischen den Arten, sondern auch individuell stark variierend. So kann ein Tier mit einer bestimmten Erkrankung, eventuelle Schmerzen stoisch ertragen, vor allem noch im Stress des Behandlungszimmers, ein anderes, eigentlich gesundes Tier, auf bestimmte Manipulationen überempfindlich oder aggressiv reagieren. Wichtige diagnostische Kriterien wie zum Beispiel die [[Zweipunktdiskrimination]], also die Fähigkeit der örtlichen Unterscheidung der Herkunft eines Schmerzreizes, lassen sich bei Tieren nicht erheben. Das Tier kann zwar Schmerzen äußern, aber dem Tierarzt nicht mitteilen, ob es den zweiten Schmerz an der gleichen oder einer benachbarten Stelle empfindet.
 
Ein weiteres Problem stellt die begrenzte Kommunikation dar. In der Humanneurologie ist die intensive Befragung des Patienten, die Anamnese, ein wichtiges Element der Diagnostik. Ein Tier kann dem Tierarzt natürlich nur wenig mitteilen, eine Befragung vor und während der Diagnostik ist nicht möglich. Der Tierarzt ist auf die Beobachtungsgabe des Tierbesitzers angewiesen, manchmal auch seiner Phantasie ausgesetzt. Das Tier kann zwar Schmerzäußerungen machen, aber schon diese sind nicht nur zwischen den Arten, sondern auch individuell stark variierend. So kann ein Tier mit einer bestimmten Erkrankung, eventuelle Schmerzen stoisch ertragen, vor allem noch im Stress des Behandlungszimmers, ein anderes, eigentlich gesundes Tier, auf bestimmte Manipulationen überempfindlich oder aggressiv reagieren. Wichtige diagnostische Kriterien wie zum Beispiel die [[Zweipunktdiskrimination]], also die Fähigkeit der örtlichen Unterscheidung der Herkunft eines Schmerzreizes, lassen sich bei Tieren nicht erheben. Das Tier kann zwar Schmerzen äußern, aber dem Tierarzt nicht mitteilen, ob es den zweiten Schmerz an der gleichen oder einer benachbarten Stelle empfindet.
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=== Krankheitsgruppen ===
 
=== Krankheitsgruppen ===
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Die neurologischen Erkrankungen der Haustiere werden üblicherweise in acht Krankheitsgruppen unterteilt, die man sich, in Anlehnung an [[Veterinär]] und [[Vitamin D]] mit dem [[Akronym]] '''[[VETAMIN D]]''' merken kann:
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Die neurologischen Erkrankungen der Haustiere werden üblicherweise in acht Krankheitsgruppen unterteilt, die man sich, in Anlehnung an [[Wikipedia:Veterinär|Veterinär]] und [[Wikipedia:Vitamin D|Vitamin D]] mit dem [[Wikipedia:Akronym|Akronym]] '''[[Wikipedia:VETAMIN D|VETAMIN D]]''' merken kann:
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* '''V'''askuläre Erkrankungen ({{laS|vas|de=[[Blutgefäß]]}}): In diese Gruppe werden alle Gefäßkrankheiten wie [[Missbildung]]en, [[Blutung]]en oder [[Ischämie]]n eingeordnet. Vaskuläre Erkrankungen sind bei Tieren relativ selten, lediglich [[Infarkt]]e des [[Rückenmark]]s treten etwas häufiger auf.
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* '''V'''askuläre Erkrankungen ({{laS|vas|de=[[Wikipedia:Blutgefäß|Blutgefäß]]}}): In diese Gruppe werden alle Gefäßkrankheiten wie [[Wikipedia:Missbildung|Missbildung]]en, [[Wikipedia:Blutung|Blutung]]en oder [[Wikipedia:Ischämie|Ischämie]]n eingeordnet. Vaskuläre Erkrankungen sind bei Tieren relativ selten, lediglich [[Wikipedia:Infarkt|Infarkt]]e des [[Wikipedia:Rückenmark|Rückenmark]]s treten etwas häufiger auf.
* '''E'''ntzündungen: In diese Gruppe gehören [[Viren|viral]] (z.&nbsp;B. [[Tollwut]]), [[Bakterien|bakteriell]] (z.&nbsp;B. [[Listeriose]]), [[Mykose|mykotisch]], [[parasit]]är oder [[Immunologie|immunpathologisch]] bedingte [[Entzündung]]en des Nervensystems.
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* '''E'''ntzündungen: In diese Gruppe gehören [[Wikipedia:Viren|viral]] (z.&nbsp;B. [[Wikipedia:Tollwut|Tollwut]]), [[Wikipedia:Bakterien|bakteriell]] (z.&nbsp;B. [[Wikipedia:Listeriose|Listeriose]]), [[Wikipedia:Mykose|mykotisch]], [[Wikipedia:parasit|parasit]]är oder [[Immunologie|immunpathologisch]] bedingte [[Wikipedia:Entzündung|Entzündung]]en des Nervensystems.
 
* '''T'''raumatische Erkrankungen: Hier werden alle Erkrankungen durch mechanische Ursachen eingeordnet, die eine direkte oder indirekte (z.&nbsp;B. durch traumatisch bedingte Blutungen) Schädigung hervorrufen.
 
* '''T'''raumatische Erkrankungen: Hier werden alle Erkrankungen durch mechanische Ursachen eingeordnet, die eine direkte oder indirekte (z.&nbsp;B. durch traumatisch bedingte Blutungen) Schädigung hervorrufen.
* '''A'''nomalien: [[Anomalie (Medizin)|Anomalien]] sind angeborene [[Fehlbildung]]en, die entweder genetisch bedingt oder durch Infektionen während der [[pränatal]]en Entwicklung verursacht sein können.
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* '''A'''nomalien: [[Wikipedia:Anomalie (Medizin)|Anomalien]] sind angeborene [[Wikipedia:Fehlbildung|Fehlbildung]]en, die entweder genetisch bedingt oder durch Infektionen während der [[Wikipedia:pränatal|pränatal]]en Entwicklung verursacht sein können.
* '''M'''etabolisch-toxische Erkrankungen: In diese Gruppe gehören alle Erkrankungen, die durch Mangel an Nährstoffen, [[Vitamine]]n und [[Spurenelement]]en oder durch endogene [[Toxin]]e (z.&nbsp;B. [[Harnstoff]]) hervorgerufen werden.
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* '''M'''etabolisch-toxische Erkrankungen: In diese Gruppe gehören alle Erkrankungen, die durch Mangel an Nährstoffen, [[Wikipedia:Vitamine|Vitamine]]n und [[Wikipedia:Spurenelement|Spurenelement]]en oder durch endogene [[Wikipedia:Toxin|Toxin]]e (z.&nbsp;B. [[Wikipedia:Harnstoff|Harnstoff]]) hervorgerufen werden.
* '''I'''diopathische Erkrankungen: Idiopathische (ohne erkennbare Ursache) Erkrankungen zeigen keine erkennbaren morphologischen Veränderungen am Nervensystem, sondern nur Funktionsstörungen wie z.&nbsp;B. die [[Epilepsie]].
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* '''I'''diopathische Erkrankungen: Idiopathische (ohne erkennbare Ursache) Erkrankungen zeigen keine erkennbaren morphologischen Veränderungen am Nervensystem, sondern nur Funktionsstörungen wie z.&nbsp;B. die [[Wikipedia:Epilepsie|Epilepsie]].
* '''N'''eoplasien: In diesen Komplex werden Neubildungen ([[Neoplasie]]), also alle [[Tumor]]<nowiki />erkrankungen eingeordnet. Dies können Tumoren der Nervenzellen sein, wobei bei Tieren nahezu ausnahmslos Tumoren der [[Gliazelle]]n ([[Gliom]]e) vorkommen. Eine zweite Gruppe sind Tumoren, die von [[mesenchym]]alen Geweben ausgehen, wie [[Meningeom]]e.
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* '''N'''eoplasien: In diesen Komplex werden Neubildungen ([[Wikipedia:Neoplasie|Neoplasie]]), also alle [[Tumor]]<nowiki />erkrankungen eingeordnet. Dies können Tumoren der Nervenzellen sein, wobei bei Tieren nahezu ausnahmslos Tumoren der [[Wikipedia:Gliazelle|Gliazelle]]n ([[Wikipedia:Gliom|Gliom]]e) vorkommen. Eine zweite Gruppe sind Tumoren, die von [[Wikipedia:mesenchym|mesenchym]]alen Geweben ausgehen, wie [[Wikipedia:Meningeom|Meningeom]]e.
* '''D'''egenerative Erkrankungen: [[Degeneration|Degenerative]] Erkrankungen sind durch pathologische Ablagerung von Stoffen (z.&nbsp;B. [[Amyloidose]]), durch das Absterben spezieller Nervenzellpopulationen oder durch Entmarkung der Nervenbahnen ([[Leukodystrophie]]) gekennzeichnet und sind meist erblich bedingt.
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* '''D'''egenerative Erkrankungen: [[Wikipedia:Degeneration|Degenerative]] Erkrankungen sind durch pathologische Ablagerung von Stoffen (z.&nbsp;B. [[Wikipedia:Amyloidose|Amyloidose]]), durch das Absterben spezieller Nervenzellpopulationen oder durch Entmarkung der Nervenbahnen ([[Wikipedia:Leukodystrophie|Leukodystrophie]]) gekennzeichnet und sind meist erblich bedingt.
    
== Historische Aspekte ==
 
== Historische Aspekte ==
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Die Neurologie, so wie wir sie heute kennen, ist sehr stark mit den Entwicklungen im Bereich der [[Anatomie]] und [[Histologie]] verbunden. Erst seitdem regelmäßige [[Obduktion]]en stattfinden und vor allem durch die Entwicklung des [[Mikroskop]]s konnten Strukturen und deren Zusammenhänge aufgeklärt werden.
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Die Neurologie, so wie wir sie heute kennen, ist sehr stark mit den Entwicklungen im Bereich der [[Anatomie]] und [[Wikipedia:Histologie|Histologie]] verbunden. Erst seitdem regelmäßige [[Wikipedia:Obduktion|Obduktion]]en stattfinden und vor allem durch die Entwicklung des [[Wikipedia:Mikroskop|Mikroskop]]s konnten Strukturen und deren Zusammenhänge aufgeklärt werden.
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Die ersten Hinweise auf „neurologische“ Behandlungsversuche gewinnt man durch [[Archäologie|archäologische]] Funde. Die älteste nachgewiesene [[Trepanation]] als [[Neurochirurgie|neurochirurgischer]] Eingriff wurde etwa 10.000 v. Chr. durchgeführt. Die Eröffnung des [[Schädel]]s ist eine der wenigen fassbaren Behandlungsmethoden, da die Veränderungen am Knochen auch nach Jahrtausenden noch nachgewiesen werden können. Weltweit konnten mehrere Hundert derartig eröffnete Schädel gefunden werden. Großteils wurden diese Eingriffe von den Patienten überlebt, was durch Regenerationsprozesse des Knochens nachweisbar ist. Die damalige Technik war derart ausgefeilt, dass die [[Dura mater]] normalerweise nicht eröffnet wurde, eine wesentliche Voraussetzung für das Überleben. Über die Gründe für derartige Eingriffe kann nur spekuliert werden, anzunehmen sind neurologische Symptome wie starke [[Kopfschmerz]]en, [[Epilepsie|epileptische Anfälle]] oder aber auch rituelle Handlungen.
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Die ersten Hinweise auf „neurologische“ Behandlungsversuche gewinnt man durch [[Wikipedia:Archäologie|archäologische]] Funde. Die älteste nachgewiesene [[Wikipedia:Trepanation|Trepanation]] als [[Wikipedia:Neurochirurgie|neurochirurgischer]] Eingriff wurde etwa 10.000 v. Chr. durchgeführt. Die Eröffnung des [[Wikipedia:Schädel|Schädel]]s ist eine der wenigen fassbaren Behandlungsmethoden, da die Veränderungen am Knochen auch nach Jahrtausenden noch nachgewiesen werden können. Weltweit konnten mehrere Hundert derartig eröffnete Schädel gefunden werden. Großteils wurden diese Eingriffe von den Patienten überlebt, was durch Regenerationsprozesse des Knochens nachweisbar ist. Die damalige Technik war derart ausgefeilt, dass die [[Wikipedia:Dura mater|Dura mater]] normalerweise nicht eröffnet wurde, eine wesentliche Voraussetzung für das Überleben. Über die Gründe für derartige Eingriffe kann nur spekuliert werden, anzunehmen sind neurologische Symptome wie starke [[Wikipedia:Kopfschmerz|Kopfschmerz]]en, [[Wikipedia:Epilepsie|epileptische Anfälle]] oder aber auch rituelle Handlungen.
    
Erste Dokumente, welche neurologische Symptome beschreiben, stammen aus dem Zweistromland zwischen Euphrat und Tigris<ref>Axel Karenberg: ''Neurologie.'' In: Werner E. Gerabek u.&nbsp;a. (Hrsg.): ''Enzyklopädie Medizingeschichte.'' 2005, S. 1037–1044; hier: S. 1038.</ref> sowie aus Ägypten, wo um das 14. Jahrhundert v. Chr. Kopfschmerzen, Epilepsien und Schwindelanfälle beschrieben wurden. Man findet ebenso erste anatomische Beschreibungen des [[Gehirn]]s und umgebender Strukturen. Des Weiteren werden unfallbedingte neurologische Symptome, wie etwa Lähmungen oder Blutungen aus Nase und Ohr bei [[Schädelfraktur]]en erwähnt. Ebenso finden sich diverse bildliche Darstellungen verschiedener neurologischer Erkrankungen.
 
Erste Dokumente, welche neurologische Symptome beschreiben, stammen aus dem Zweistromland zwischen Euphrat und Tigris<ref>Axel Karenberg: ''Neurologie.'' In: Werner E. Gerabek u.&nbsp;a. (Hrsg.): ''Enzyklopädie Medizingeschichte.'' 2005, S. 1037–1044; hier: S. 1038.</ref> sowie aus Ägypten, wo um das 14. Jahrhundert v. Chr. Kopfschmerzen, Epilepsien und Schwindelanfälle beschrieben wurden. Man findet ebenso erste anatomische Beschreibungen des [[Gehirn]]s und umgebender Strukturen. Des Weiteren werden unfallbedingte neurologische Symptome, wie etwa Lähmungen oder Blutungen aus Nase und Ohr bei [[Schädelfraktur]]en erwähnt. Ebenso finden sich diverse bildliche Darstellungen verschiedener neurologischer Erkrankungen.
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'''Antike'''
 
'''Antike'''
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[[Pythagoras von Samos|Pythagoras]] und [[Anaxagoras]] haben erstmals das Gehirn als Sitz des Denkvermögens, der Empfindungen und der Seele sowie die Verbindung von Gehirn und [[Nerv]]en beschrieben. Im Gegensatz zu diesen Überlieferungen sind von [[Hippokrates von Kos|Hippokrates]] noch keine entsprechenden schriftlichen Ausführungen bekannt.
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[[Wikipedia:Pythagoras von Samos|Pythagoras]] und [[Wikipedia:Anaxagoras|Anaxagoras]] haben erstmals das Gehirn als Sitz des Denkvermögens, der Empfindungen und der Seele sowie die Verbindung von Gehirn und [[Wikipedia:Nerv|Nerv]]en beschrieben. Im Gegensatz zu diesen Überlieferungen sind von [[Wikipedia:Hippokrates von Kos|Hippokrates]] noch keine entsprechenden schriftlichen Ausführungen bekannt.
    
Das griechische Wort für Nerv ist ''neuron'' und bezeichnete (als ''(gespanntes) strangartiges Gebilde'') sowohl Sehnen als auch Nerven.<ref>Friedrich Kluge, Alfred Götze: ''Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache.'' 20. Aufl., hrsg. von Walther Mitzka, De Gruyter, Berlin / New York 1967; Neudruck („21. unveränderte Auflage“) ebenda 1975, ISBN 3-11-005709-3, S. 507.</ref> Eine anatomische Unterscheidung erfolgte bereits ab dem 3. Jahrhundert v. Chr.<ref>Franz Dornseiff: ''Die griechischen Wörter im Deutschen.'' Berlin 1950, S. 53.</ref> das lateinische Wort ''nervus'' blieb aber bis ins Spätmittelalter<ref>Hieronymus Brunschwig: ''Das buch der Cirurgia.'' Straßburg (Johann Grüninger) 1497; Neudrucke München 1911 und Mailand 1923, S. 262.</ref> auch weiterhin ein Synonym für ''Sehne''.
 
Das griechische Wort für Nerv ist ''neuron'' und bezeichnete (als ''(gespanntes) strangartiges Gebilde'') sowohl Sehnen als auch Nerven.<ref>Friedrich Kluge, Alfred Götze: ''Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache.'' 20. Aufl., hrsg. von Walther Mitzka, De Gruyter, Berlin / New York 1967; Neudruck („21. unveränderte Auflage“) ebenda 1975, ISBN 3-11-005709-3, S. 507.</ref> Eine anatomische Unterscheidung erfolgte bereits ab dem 3. Jahrhundert v. Chr.<ref>Franz Dornseiff: ''Die griechischen Wörter im Deutschen.'' Berlin 1950, S. 53.</ref> das lateinische Wort ''nervus'' blieb aber bis ins Spätmittelalter<ref>Hieronymus Brunschwig: ''Das buch der Cirurgia.'' Straßburg (Johann Grüninger) 1497; Neudrucke München 1911 und Mailand 1923, S. 262.</ref> auch weiterhin ein Synonym für ''Sehne''.
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'''Neuzeit'''
 
'''Neuzeit'''
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Als Begründer der modernen Neurologie gelten [[Guillaume-Benjamin Duchenne]] und [[Jean-Martin Charcot]].<ref>Vgl. Jean Bogousslavsky (Hrsg.): ''Following Charcot. A Forgotten History of Neurology and Psychiatry.'' Basel 2011.</ref>
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Als Begründer der modernen Neurologie gelten [[Wikipedia:Guillaume-Benjamin Duchenne|Guillaume-Benjamin Duchenne]] und [[Wikipedia:Jean-Martin Charcot|Jean-Martin Charcot]].<ref>Vgl. Jean Bogousslavsky (Hrsg.): ''Following Charcot. A Forgotten History of Neurology and Psychiatry.'' Basel 2011.</ref>
    
== Siehe auch ==
 
== Siehe auch ==
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