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Materialismus

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Disambig-dark.svg Dieser Artikel behandelt den erkenntnistheoretischen oder ontologischen Materialismus. Zu anderen Bedeutungen siehe Materialismus (Begriffsklärung).

Der Materialismus ist eine erkenntnistheoretische und ontologische Position, die alle Vorgänge und Phänomene der Welt auf Materie und deren Gesetzmäßigkeiten und Verhältnisse zurückführt. Damit ist er auch eine Form des Naturalismus.

In der Grundfrage der Philosophie grenzt sich der Materialismus von allen anderen Philosophien ab. Die idealistische Lösung der Grundfrage der Philosophie geht in allen Varianten vom Primat des Bewusstseins gegenüber der Materie aus. Der Materialismus geht davon aus, dass selbst Gedanken, Gefühle oder das Bewusstsein auf Materie zurückgeführt werden können. Er erklärt die den Menschen umgebende Welt und die in ihr ablaufenden Prozesse ohne Gott. In der Gegenwartsphilosophie wird der Begriff „Physikalismus“ oft gleichbedeutend mit „Materialismus“ verwendet. Gegenbegriffe sind der Idealismus, für den nur Bewusstseinsinhalte eigentlich wirklich sind, und der Dualismus, für den das Physische und das Psychische zwei strikt voneinander getrennte, eigenständig existierende Seinsbereiche darstellen.

Begriff

Der Begriff Materialismus wurde zuerst im 17. Jahrhundert von Henry More verwendet und findet sich auch in der Korrespondenz von Gottfried Wilhelm Leibniz mit Samuel Clarke wieder.[1] In seinem heutigen Verständnis ist er eine Schöpfung des 18. Jahrhunderts.[2] Noch bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts erscheint „Naturalist“ in den beiden grundverschiedenen Bedeutungen von „Naturwissenschaftler“ und „Materialist“. In Deutschland findet sich auch „Realist“ für „Materialist“ (W. Kraus).

Schon bei La Mettrie hat der Begriff eine zentrale Bedeutung gewonnen. In seiner Schrift L’homme machine (Der Mensch – eine Maschine) aus dem Jahre 1747 heißt es: „Ich führe die philosophischen Systeme von der menschlichen Seele auf zwei zurück. Das erste und älteste ist das System des Materialismus; das zweite ist das des ‚Spiritualismus‘.“ Auch bei Diderot in dem Enzyklopädieartikel zu Immaterialismus oder Spiritualismus (1765) und bei Holbach im Systeme de la nature (System der Natur, 1770) werden „Materialismus“ und „Immaterialismus“ oder „Spiritualismus“ einander gegenübergestellt. Holbach schreibt: „Wenn wir mit Hilfe der Erfahrung die Elemente erkennen würden, die die Grundlage des Temperaments eines Menschen oder des größeren Teils der Individuen ausmachen, aus denen sich ein Volk zusammensetzt, so wüssten wir, was für sie richtig wäre, welche Gesetze und Einrichtungen für sie notwendig und nützlich wären. Mit einem Wort: die Moral und Politik können aus dem Materialismus Vorteile ziehen, die ihnen die Lehre vom Spiritualismus niemals geben kann und an die auch nur zu denken diese Lehre sie hindert. Der Mensch wird stets für alle ein Geheimnis bleiben, die darauf beharren, ihn mit den voreingenommenen Augen der Theologie zu sehen.“ In Helvetius nachgelassenem Werk De l’homme (Vom Menschen 1772) wird betont, dass die Worte „Materialist“ und „Aufklärer“ gleichbedeutend seien.

Auch Kant unterscheidet zwischen „Materialismus“ und „Spiritualismus“ (Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, 1793). Für Hegel ist der „Materialismus“, „Naturalismus“ das konsequente System des „Empirismus“ (ENZ. 1830, § 60). Heine weist in seiner Schrift Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland (1834) darauf hin, dass man in Frankreich zwischen „Sensualismus“ einerseits und „Spiritualismus“ – manchmal auch „Rationalismus“ andererseits unterscheide. Er selbst zieht aber die Unterscheidung zwischen „Materialismus“ und „Idealismus“ vor. Den Materialismus definiert er als die Lehre von der Geisteserkenntnis durch die Erfahrung, durch die Sinne, als die Lehre von den Ideen a posteriori und den Idealismus als die Lehre von den angeborenen Ideen, von den Ideen a priori.

Geschichte

Die Ursprünge des Materialismus liegen in der griechischen Naturphilosophie. Wichtige Vordenker sind u. a. Thales, Anaximander, Epikur, vor allem aber Leukipp und Demokrit, die Begründer der materiellen Atomistik. Die Naturphilosophen suchten natürliche Erklärungen der Wirklichkeit anstelle der mythologischen. Die Naturphilosophie gilt somit auch als Vorläuferin der modernen Wissenschaft.

Als Vertreter des Materialismus im Zeitalter der Aufklärung sind ab 1750 La Mettrie, gefolgt von d’Holbach, Helvétius und Diderot zu nennen. Für großes Aufsehen, sowohl bei den Aufklärern als auch bei deren Gegnern, sorgte 1770 die pseudonyme Veröffentlichung von Holbachs Système de la nature. Dieses zweibändige Werk legt ein mechanistisches Weltbild dar, in dem die Natur aus sich selbst wirkt und alle Prozesse deterministisch ablaufen. Das Werk plädiert ausdrücklich für Atheismus, dem es die moralische Überlegenheit attestiert, und argumentiert gegen verschiedene Gottesbeweise. Ein materialistisches Weltbild hatte jedoch schon über 100 Jahre früher der Philosoph René Descartes. Er reduzierte den lebenden Organismus (auch des Menschen) auf dessen Mechanik und definierte die Materie als Gegenstück zum Geist.

Ein streng mechanistisches, deterministisches Weltbild entwarf nach den Philosophen der Aufklärung der französische Mathematiker, Physiker und Philosoph Laplace. Er behauptete, die Kenntnis des gegenwärtigen Zustands eines jeden Teilchens im Universum erlaube es, auf Grundlage der Naturgesetze den Zustand des Universums zu jedem zukünftigen Zeitpunkt zu bestimmen (vgl. Laplacescher Dämon). Gegen die Vorstellung vom Laplaceschen Dämon lassen sich verschiedene Einwände erheben, die auf von der Physik nach Laplace erkannten Gesetzmäßigkeiten beruhen. Der Laplacesche Dämon dient heute nur noch zur Veranschaulichung eines streng deterministischen Weltbildes.

Junghegelianische materialistische Wendungen des absoluten Idealismus Hegels entwickelten Ludwig Feuerbach, Karl Marx und Friedrich Engels ab den 1840er-Jahren. Unter Rückgriff auf die englische Nationalökonomie (insbesondere Smiths und Ricardos) sowie Ideen des französischen Sozialismus begründeten Marx und Engels ihre materialistische Geschichtsphilosophie (beim späten Engels und in dessen Nachfolge als Historischer Materialismus bezeichnet) und dialektischen Methode. Engels wandte sich zugleich gegen den damals aufkommenden nicht-dialektischen naturwissenschaftlichen Materialismus – der im Materialismusstreit mit dem aufkommenden, sich ebenfalls von Hegel lossagenden Neukantianismus in Konflikt geriet –, zuweilen als Vulgärmaterialismus bezeichnet. Der dialektische Materialismus knüpft insbesondere an die von Engels im Anti-Dühring und der Dialektik der Natur vorgenommene Verweltanschaulichung an und wurde mit dem historischen Materialismus zusammen hegemonialer philosophischer Grundansatz in den realsozialistischen Staaten (vgl. etwa Josef Stalins Über Dialektischen und Historischen Materialismus). Dem entgegen sehen manche marxistischen Materialisten Grenzen der Dialektik, von denen bereits Marx andeutungsweise schrieb. Georg Lukács sah die Dialektik auf die Menschheitsgeschichte begrenzt, während Antonio Gramsci weder eine Beschränkung der Dialektik auf den Menschen noch eine Ausdehnung auf die Natur zu akzeptieren bereit war. Andere Marxisten gaben den Bezug auf die Dialektik weitgehend auf: Teile des Neu-Kantianismus suchten die Philosophie Kants mit dem historischen Materialismus zu verbinden. Louis Althusser setzte zunächst eine strukturalistische Marx-Interpretation hegelianischen Interpretationen entgegen und formulierte später in Anschluss an die griechische Atomistik einen aleatorischen Materialismus. Der Materialismus ist je nach Strömung des Marxismus mit einem Impetus auf Ökonomie, Gesellschaft, (Natur-)Wissenschaft, Natur oder (in Anknüpfung an die Thesen über Feuerbach) Praxis in unterschiedlicher Gewichtung verbunden. Theodor W. Adorno machte als Wesen des Marx folgenden kritischen Materialismus in Abgrenzung vom standpunktphilosophischen Vulgärmaterialismus die Kritik am Idealismus aus, was ihn für einen Ansatzpunkt seiner negative Dialektik macht.

In der analytischen Philosophie finden sich viele Vertreter materialistischer Positionen. Es werden verschiedene Modelle entwickelt, wie Bewusstsein und Sinnesempfindungen (siehe auch Qualia) in ein physikalistisches Weltbild integriert werden können. Während manche Philosophen solche Vorgänge zur Illusion erklären wollen (der Eliminative Materialismus etwa bei Paul Churchland und Daniel Dennett), betonen andere, dass das Psychische zwar keine eigene Seinssphäre neben dem Physischen ist, sich aber dennoch nicht völlig auf letzteres zurückführen lässt (z. B. der Anomale Monismus bei Donald Davidson).

Kritik am Materialismus und Auseinandersetzung mit dem Idealismus

Der Materialismus ist seit seinen Anfängen kritisiert worden. Neben Auseinandersetzungen der verschiedenen Strömungen des Materialismus spielt dabei hauptsächlich die Auseinandersetzung zwischen Materialismus und Idealismus eine Rolle.

Grundlegende Positionen, Erkenntnistheorie und Materialismus

Eines der Hauptargumente von idealistischer Seite gegen den Materialismus ist, dass man mentale menschliche Fähigkeiten wie das Selbstbewusstsein nicht (rein) materiell verstehen und nicht vollständig auf Materie zurückführen könne. Demgegenüber ist eines der wichtigsten Argumente gegen den Idealismus bzw. für den Materialismus, dass der Idealismus die Eigengesetzlichkeit der sinnlich wahrnehmbaren Welt und deren beobachtete Unabhängigkeit von mentalen Prozessen nicht erklären könne.

Weiter wird gegen den Materialismus argumentiert, dass der Materialismus sich nicht selbst erklären könne, da er als Theorie und nicht als Materie auftritt. Darüber hinaus sei der Begriff der Wahrheit (bzw. die gesamte Erkenntnistheorie) rein materiell nicht zu verstehen. Die Erkenntnistheorie werde durch den Materialismus auf eine empirische Wissenschaft verkürzt. Kulturelle Inhalte, Ideen und alle immateriellen Formen hätten keine eigenständige Existenz mehr. Eine Erkenntniskritik oder eine unabhängige Reflexion der Erkenntnis seien in einem Materialismus nicht mehr oder nur noch sehr eingeschränkt möglich. Eine Überprüfung von wissenschaftlichen Hypothesen sei nur noch innerhalb bestimmter metaphysischer Vorbedingungen möglich.

Gegen diese Kritik wird eingewendet, dass die Materie sich sehr wohl selbst erklären könne, und zwar mittels ihrer „höchstentwickelten“ Erscheinungsform, des menschlichen Gehirns. So habe der Mensch im Verlauf von Jahrtausenden in der praktischen Auseinandersetzung in und mit der Natur (d. h. durch Arbeit) die Fähigkeit erlangt, seine ihm über die Sinneswahrnehmung vermittelten Erkenntnisse im Denken und in der Sprache zusammenzufassen. Die Resultate des Denkens selbst, die Ideen, seien nicht materiell, beruhten aber auf der Tätigkeit des Gehirns und seien damit Produkt der Materie.

Eine wesentliche Kritik nimmt die Produkte menschlichen Geistes als Ausgangspunkt für ihre Argumentation. Selbst unter der Annahme, dass Ideen, Theorien, (Bau-)Pläne, technisches Know-how etc. vom Gehirn (und nicht vom Bewusstsein) produziert seien, müsse bedacht werden, dass diese unabhängig von ihren Urhebern (weiter-)existieren könnten. Insofern sei der Mensch von einer geistigen Welt umgeben, die sein kulturelles Erbe ausmache.

Dem entgegensetzen kann man wiederum, dass diese Ideen bei anderen Menschen auch nur als Synapsenverbindungen im Gehirn gespeichert und somit nach wie vor „sterblich“ sind.

Materialismus und die Wahrnehmung von Raum und Zeit

Der Materialismus beruht auf der Grundannahme, dass wir die Welt so erfahren, wie sie ist, dass wir das Ding an sich unmittelbar wahrnehmen, oder sich unsere Erkenntnis doch jedenfalls im Sinne der Popperschen Falsifikation mittels empirischer Methoden an die Welt an sich stetig weiter annähern könne. In der Annäherung kommt das dialektische Verhältnis von absoluter und relativer Wahrheit zum Ausdruck. Somit ist die Natur um uns ein Fakt und unsere Wahrnehmung dessen richtig – wenn auch über die Sinne manches durch Farben, Klänge usw. verfälscht wird.

Die Währung dieser faktischen Natur ist (trotz Quantenphysik weiterhin) die Materie. Raum und Zeit sind grundlegende Existenzformen der Materie. Es gibt weder einen an sich seienden unabhängigen Raum noch eine an sich seiende unabhängige Zeit, sie sind stets an Materie gebunden.[3] Das Nebeneinander und Nacheinander der Dinge sind Raum und Zeit. Die Relativitätstheorie hat das Verständnis von Raum und Zeit revolutioniert und Zusammenhänge aufgedeckt, die sich mathematisch präzise in Formeln fassen und durch Experimente bestätigen lassen.

Die Materialisten sehen in diesen Veräußerungen einen klaren Widerspruch zu den Aussagen der Idealisten, wie Immanuel Kant. Dieser vertrat die Auffassung, dass der Mensch im Geiste nur über eine subjektive Anschauung von der Natur verfügen kann, während die wahre Seinsform der Natur ihm nicht zugänglich ist. Er ging dabei so weit zu behaupten, dass auch die Ordnungen und Strukturen, die wir wahrnehmen, nur von uns im Gedanken hinein gebracht sind.

Die evolutionäre Erkenntnistheorie strebt eine Verbindung von Physikalismus und Idealismus an. Demnach sollen diese angeblichen geistigen A priori letztlich doch Aposteriori sein, nämlich insofern auf Erfahrung – also auf einer Wechselwirkung mit der Realität – beruhen, als unser Erkenntnisapparat sich im Laufe der Evolution an die eben vorhandene raumzeitliche Struktur seiner Umgebung angepasst habe und diese deshalb von Geburt an, ohne dass dies erlernt werden müsste, voraussetze.

Geht man davon aus, dass dieser Erkenntnisapparat als Gehirn auch aus der Materie erschaffen ist und somit seine Wahrnehmung sich auf Gesetze der Physik zurück führen lässt – ohne damit zwingend das Erleben der Wahrnehmung als Phänomen erklärt zu haben –, ist ein heute sehr populärer Schulterschluss gefunden.

Siehe auch

Literatur

  • Georg Klaus, Manfred Buhr (Hrsg.): Philosophisches Wörterbuch. 2 Bände. 12. gegenüber der 10, neuerarbeitete und durchgesehene Auflage, VEB Bibliographisches Institut, Leipzig 1976.
  • Mario Bunge, Martin Mahner: Über die Natur der Dinge. Materialismus und Wissenschaft. Hirzel-Verlag, Stuttgart 2004.
  • Eduard Jan Dijksterhuis: Die Mechanisierung des Weltbildes. Springer, Berlin / Heidelberg / New York 1956, DNB 451027213. (Neuauflage: 1983, ISBN 3-540-02003-9).
  • Terry Eagleton: Materialismus. Die Welt erfassen und verändern. Promedia, Wien 2018, ISBN 978-3-85371-433-1.
  • Frederic Gregory: Scientific Materialism in Nineteenth Century Germany. D. Reidel, Dordrecht 1977.
  • Friedrich Albert Lange: Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart. 2 Bände, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1974.
  • Margarete J. Osler: Mechanical Philosophy. In: New Dictionary of the History of Ideas. 1389–1392.
  • M. Overmann: Der Ursprung des französischen Materialismus. Die Kontinuität materialistischen Denkens von der Antike bis zur Aufklärung. Peter Lang, Frankfurt 1993.
  • Annette Wittkau-Horgby: Materialismus. Entstehung und Wirkung in den Wissenschaften des 19. Jahrhunderts. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1998.
  • Martin Küpper: Materialismus, PapyRossa Verlag, Köln 2017, ISBN 978-3-89438-639-9.

Weblinks

Wiktionary: Materialismus – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Einzelnachweise

  1. Arnim Regenbogen, Uwe Meyer (Hrsg.): Wörterbuch der philosophischen Begriffe. Verlag Felix Meiner, Hamburg 1998, ISBN 3-7873-1325-7, S. 399.
  2. Georg Klaus, Manfred Buhr (Hrsg.): Marxistisch-Leninistisches Wörterbuch der Philosophie, Rowohlt, Hamburg 1972, ISBN 3-499-16155-9
  3. Artikel Raum und Zeit. In: Georg Klaus, Manfred Buhr (Hrsg.): Philosophisches Wörterbuch. 11. Aufl., Leipzig 1975.
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