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Physiotherapie: Unterschied zwischen den Versionen
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− | [[Datei:Physical Therapists at work.jpg|mini|Physiotherapeuten bei der Arbeit an Patienten mit Störungen des [[Gleichgewichtssinn|Gleichgewichts]] und [[Orthopädie|orthopädischen]] Problemen. Im Bild auch zu sehen: Beurteilung und Prüfung der [[Muskel]]funktion und [[Steifigkeit|Muskelsteifigkeit]], [[Gelenk]]sbeweglichkeit, Prüfung des Gleichgewichts und Beurteilung des [[Gehen|Gang]]bildes.]] | + | [[Datei:Physical Therapists at work.jpg|mini|Physiotherapeuten bei der Arbeit an Patienten mit Störungen des [[Gleichgewichtssinn|Gleichgewichts]] und [[Wikipedia:Orthopädie|orthopädischen]] Problemen. Im Bild auch zu sehen: Beurteilung und Prüfung der [[Wikipedia:Muskel|Muskel]]funktion und [[Wikipedia:Steifigkeit|Muskelsteifigkeit]], [[Wikipedia:Gelenk|Gelenk]]sbeweglichkeit, Prüfung des Gleichgewichts und Beurteilung des [[Wikipedia:Gehen|Gang]]bildes.]] |
[[Datei:Fizio9.jpg|mini|Physiotherapie-Ausbildung]] | [[Datei:Fizio9.jpg|mini|Physiotherapie-Ausbildung]] | ||
[[Datei:Physiotherapiebehandlung.jpg|mini|Behandlung durch einen Physiotherapeuten]] | [[Datei:Physiotherapiebehandlung.jpg|mini|Behandlung durch einen Physiotherapeuten]] | ||
'''Physiotherapie''' ({{grcS|φύσις|phýsis|de=Natur}}, ‚Körper’ und {{lang|grc|θεραπεία|therapeía|de=Dienen}}, ‚Pflege‘, ‚Heilung‘, somit in etwa ‚das Wiederherstellen der natürlichen Funktion‘), früher auch '''Krankengymnastik''', ist eine Form spezifischen Trainings und der äußerlichen Anwendung von [[Heilmittel]]n, mit der vor allem die Bewegungs- und Funktionsfähigkeit des menschlichen Körpers wiederhergestellt, verbessert oder erhalten werden soll. | '''Physiotherapie''' ({{grcS|φύσις|phýsis|de=Natur}}, ‚Körper’ und {{lang|grc|θεραπεία|therapeía|de=Dienen}}, ‚Pflege‘, ‚Heilung‘, somit in etwa ‚das Wiederherstellen der natürlichen Funktion‘), früher auch '''Krankengymnastik''', ist eine Form spezifischen Trainings und der äußerlichen Anwendung von [[Heilmittel]]n, mit der vor allem die Bewegungs- und Funktionsfähigkeit des menschlichen Körpers wiederhergestellt, verbessert oder erhalten werden soll. | ||
− | Die Behandlungen werden von Physiotherapeuten und in Teilbereichen von [[Masseur und medizinischer Bademeister|Masseuren und medizinischen Bademeistern]] durchgeführt. [[Physiotherapeut]] ist in Deutschland kein eigenständiger [[Heilberuf]], sondern gehört zu den [[Gesundheitsfachberuf]]en (früher Heilhilfsberufe). Die medizinische Notwendigkeit einer Behandlung wird ausschließlich durch [[Arzt|Ärzte]] festgestellt und auf Rezept verordnet, außer bei präventiven Maßnahmen. Sporttherapeuten, -wissenschaftler und -lehrer erfüllen nicht die Zulassungsvoraussetzungen als Physiotherapeut und dürfen physiotherapeutische Heilmittel wie z. B. Krankengymnastik weder erbringen noch abrechnen. | + | Die Behandlungen werden von Physiotherapeuten und in Teilbereichen von [[Wikipedia:Masseur und medizinischer Bademeister|Masseuren und medizinischen Bademeistern]] durchgeführt. [[Wikipedia:Physiotherapeut|Physiotherapeut]] ist in Deutschland kein eigenständiger [[Heilberuf]], sondern gehört zu den [[Gesundheitsfachberuf]]en (früher Heilhilfsberufe). Die medizinische Notwendigkeit einer Behandlung wird ausschließlich durch [[Arzt|Ärzte]] festgestellt und auf Rezept verordnet, außer bei präventiven Maßnahmen. Sporttherapeuten, -wissenschaftler und -lehrer erfüllen nicht die Zulassungsvoraussetzungen als Physiotherapeut und dürfen physiotherapeutische Heilmittel wie z. B. Krankengymnastik weder erbringen noch abrechnen. |
== Ziel == | == Ziel == | ||
− | Die Physiotherapie orientiert sich bei der Behandlung an den Beschwerden und den Funktions-, Bewegungs- bzw. Aktivitätseinschränkungen des Patienten, die bei der physiotherapeutischen Untersuchung festgestellt werden. Sie nutzt sowohl diagnostische und auf [[clinical reasoning]] basierende, wie auch pädagogische und manuelle Kompetenzen des Therapeuten. Gegebenenfalls wird sie ergänzt durch natürliche physikalische [[Reiz]]e (z. B. Wärme, Kälte, Druck, Strahlung, Elektrizität) und fördert die Eigenaktivität (koordinierte Bewegung sowie die bewusste Wahrnehmung) des Patienten. Die [[Therapie|Behandlung]] ist an die [[Anatomie|anatomischen]] und physiologischen, [[motivation]]alen und [[kognitiv]]en Gegebenheiten des Patienten angepasst. Dabei zielt die Behandlung einerseits auf natürliche, physiologische Reaktionen des [[Organismus]] (z. B. motorisches [[Lernen]], [[Muskelaufbau]] und [[Stoffwechsel]]anregung), andererseits auf ein verbessertes Verständnis der Funktionsweise des Organismus ([[Dysfunktion]]en/Ressourcen) und auf eigenverantwortlichen Umgang mit dem eigenen [[Körper (Biologie)|Körper]] ab. Das Ziel ist die Wiederherstellung, Erhaltung oder Förderung der [[Gesundheit]] und dabei sehr häufig die Schmerzfreiheit bzw. -reduktion. | + | Die Physiotherapie orientiert sich bei der Behandlung an den Beschwerden und den Funktions-, Bewegungs- bzw. Aktivitätseinschränkungen des Patienten, die bei der physiotherapeutischen Untersuchung festgestellt werden. Sie nutzt sowohl diagnostische und auf [[Wikipedia:clinical reasoning|clinical reasoning]] basierende, wie auch pädagogische und manuelle Kompetenzen des Therapeuten. Gegebenenfalls wird sie ergänzt durch natürliche physikalische [[Wikipedia:Reiz|Reiz]]e (z. B. Wärme, Kälte, Druck, Strahlung, Elektrizität) und fördert die Eigenaktivität (koordinierte Bewegung sowie die bewusste Wahrnehmung) des Patienten. Die [[Therapie|Behandlung]] ist an die [[Anatomie|anatomischen]] und physiologischen, [[Wikipedia:motivation|motivation]]alen und [[Wikipedia:kognitiv|kognitiv]]en Gegebenheiten des Patienten angepasst. Dabei zielt die Behandlung einerseits auf natürliche, physiologische Reaktionen des [[Wikipedia:Organismus|Organismus]] (z. B. motorisches [[Wikipedia:Lernen|Lernen]], [[Wikipedia:Muskelaufbau|Muskelaufbau]] und [[Wikipedia:Stoffwechsel|Stoffwechsel]]anregung), andererseits auf ein verbessertes Verständnis der Funktionsweise des Organismus ([[Wikipedia:Dysfunktion|Dysfunktion]]en/Ressourcen) und auf eigenverantwortlichen Umgang mit dem eigenen [[Wikipedia:Körper (Biologie)|Körper]] ab. Das Ziel ist die Wiederherstellung, Erhaltung oder Förderung der [[Gesundheit]] und dabei sehr häufig die Schmerzfreiheit bzw. -reduktion. |
== Forschung == | == Forschung == | ||
Im englischen Sprachraum wird unter anderem die Pathokinesiologie/Kinesiopathologie als kennzeichnende Wissenschaft gesehen, der eine zentrale Rolle für die professionelle Identität der Physiotherapie<ref>Jules M Rothstein: [http://ptjournal.apta.org/content/66/3/364.full.pdf ''Pathokinesiology – A Name for Our Times?'']{{Toter Link|url=http://ptjournal.apta.org/content/66/3/364.full.pdf |date=2019-05 |archivebot=2019-05-07 10:25:22 InternetArchiveBot }} (PDF) In: ''Phys Ther.'', 1986;, 66, S. 364–365.</ref> bzw. ihrer Abgrenzung zu anderen Berufen zukommt, welche sich im Gegensatz zu ihr nicht professionell mit dem menschlichen Bewegungssystem<ref>SA. Sahrmann: ''The human movement system: our professional identity''. In: ''Phys Ther.'', 2014 Jul, 94(7), S. 1034–1042, PMID 24627430, [[doi:10.2522/ptj.20130319]].</ref> auseinandersetzen. | Im englischen Sprachraum wird unter anderem die Pathokinesiologie/Kinesiopathologie als kennzeichnende Wissenschaft gesehen, der eine zentrale Rolle für die professionelle Identität der Physiotherapie<ref>Jules M Rothstein: [http://ptjournal.apta.org/content/66/3/364.full.pdf ''Pathokinesiology – A Name for Our Times?'']{{Toter Link|url=http://ptjournal.apta.org/content/66/3/364.full.pdf |date=2019-05 |archivebot=2019-05-07 10:25:22 InternetArchiveBot }} (PDF) In: ''Phys Ther.'', 1986;, 66, S. 364–365.</ref> bzw. ihrer Abgrenzung zu anderen Berufen zukommt, welche sich im Gegensatz zu ihr nicht professionell mit dem menschlichen Bewegungssystem<ref>SA. Sahrmann: ''The human movement system: our professional identity''. In: ''Phys Ther.'', 2014 Jul, 94(7), S. 1034–1042, PMID 24627430, [[doi:10.2522/ptj.20130319]].</ref> auseinandersetzen. | ||
− | Publikationen forschender Physiotherapeuten werden international in medizinischen bzw. naturwissenschaftlichen Fachzeitschriften publiziert, und sind dabei dem ''[[peer-review]]'' unterzogen.<ref>SA. Sahrmann, BJ. Norton: ''The relationship of voluntary movement to spasticity in the upper motor neuron syndrome''. In: ''Trans Am Neurol Assoc.'', 1977, 102, S. 108–112, PMID 616084.</ref><ref>A. Leduc, P. Lievens: ''Experimental evidence for motoric rehabilitation in lymphoedema'' (author’s transl). In: ''Acta Chir Belg.'', 1979 May-Jun, 78(3), S. 189–193, PMID 474032 [Article in Dutch]</ref><ref>N Guissard, J Duchateau, K. Hainaut: ''Muscle stretching and motoneuron excitability''. In: ''Eur J Appl Physiol Occup Physiol.'', 1988, 58(1-2), S. 47–52, PMID 3203674.</ref><ref>GJ Graham, DS. Butler: ''Whiplash in Australia: illness or injury?'' In: ''Med J Aust.'', 1992 Sep 21, 157(6), S. 429, PMID 1448009.</ref><ref>P Bourgeois, O Leduc, A. Leduc: ''Imaging techniques in the management and prevention of posttherapeutic upper limb edemas''. In: ''Cancer'', 1998 Dec 15, 83 (12 Suppl American), S. 2805–2813, PMID 9874402.</ref><ref>G Cheron, A Bengoetxea, B Dan, JP. Draye: ''Multi-joint coordination strategies for straightening up movement in humans''. In: ''Neurosci Lett.'', 1998 Feb 20, 242(3), S. 135–138, PMID 9530924.</ref><ref>P Segers, JP Belgrado, A Leduc, O Leduc, P. Verdonck: ''Excessive pressure in multichambered cuffs used for sequential compression therapy''. In: ''Phys Ther.'', 2002 Oct, 82(10), S. 1000–1008, PMID 12350214.</ref><ref>GL Moseley, H. Flor: ''Targeting cortical representations in the treatment of chronic pain: a review''. In: ''Neurorehabil Neural Repair.'', 2012 Jul-Aug, 26(6), S. 646–652, PMID 22331213, [[doi:10.1177/1545968311433209]].</ref> | + | Publikationen forschender Physiotherapeuten werden international in medizinischen bzw. naturwissenschaftlichen Fachzeitschriften publiziert, und sind dabei dem ''[[Wikipedia:peer-review|peer-review]]'' unterzogen.<ref>SA. Sahrmann, BJ. Norton: ''The relationship of voluntary movement to spasticity in the upper motor neuron syndrome''. In: ''Trans Am Neurol Assoc.'', 1977, 102, S. 108–112, PMID 616084.</ref><ref>A. Leduc, P. Lievens: ''Experimental evidence for motoric rehabilitation in lymphoedema'' (author’s transl). In: ''Acta Chir Belg.'', 1979 May-Jun, 78(3), S. 189–193, PMID 474032 [Article in Dutch]</ref><ref>N Guissard, J Duchateau, K. Hainaut: ''Muscle stretching and motoneuron excitability''. In: ''Eur J Appl Physiol Occup Physiol.'', 1988, 58(1-2), S. 47–52, PMID 3203674.</ref><ref>GJ Graham, DS. Butler: ''Whiplash in Australia: illness or injury?'' In: ''Med J Aust.'', 1992 Sep 21, 157(6), S. 429, PMID 1448009.</ref><ref>P Bourgeois, O Leduc, A. Leduc: ''Imaging techniques in the management and prevention of posttherapeutic upper limb edemas''. In: ''Cancer'', 1998 Dec 15, 83 (12 Suppl American), S. 2805–2813, PMID 9874402.</ref><ref>G Cheron, A Bengoetxea, B Dan, JP. Draye: ''Multi-joint coordination strategies for straightening up movement in humans''. In: ''Neurosci Lett.'', 1998 Feb 20, 242(3), S. 135–138, PMID 9530924.</ref><ref>P Segers, JP Belgrado, A Leduc, O Leduc, P. Verdonck: ''Excessive pressure in multichambered cuffs used for sequential compression therapy''. In: ''Phys Ther.'', 2002 Oct, 82(10), S. 1000–1008, PMID 12350214.</ref><ref>GL Moseley, H. Flor: ''Targeting cortical representations in the treatment of chronic pain: a review''. In: ''Neurorehabil Neural Repair.'', 2012 Jul-Aug, 26(6), S. 646–652, PMID 22331213, [[doi:10.1177/1545968311433209]].</ref> |
Konkrete Anwendung finden z. B. die Arbeiten einer US-amerikanischen Forschergruppe bei der Etablierung spezifischer Diagnosekategorien, zum Zweck der ursachenbezogenen und zielgerichteten Therapie von Schmerzsyndromen des menschlichen Bewegungssystems.<ref>M Harris-Hayes, SA Sahrmann, BJ Norton, GB. Salsich: ''Diagnosis and management of a patient with knee pain using the movement system impairment classification system''. In: ''J Orthop Sports Phys Ther.'', 2008 Apr, 38(4), S. 203–213, PMID 18434664, [[doi:10.2519/jospt.2008.2584]].</ref> | Konkrete Anwendung finden z. B. die Arbeiten einer US-amerikanischen Forschergruppe bei der Etablierung spezifischer Diagnosekategorien, zum Zweck der ursachenbezogenen und zielgerichteten Therapie von Schmerzsyndromen des menschlichen Bewegungssystems.<ref>M Harris-Hayes, SA Sahrmann, BJ Norton, GB. Salsich: ''Diagnosis and management of a patient with knee pain using the movement system impairment classification system''. In: ''J Orthop Sports Phys Ther.'', 2008 Apr, 38(4), S. 203–213, PMID 18434664, [[doi:10.2519/jospt.2008.2584]].</ref> | ||
== Synonyme und verwandte Bereiche == | == Synonyme und verwandte Bereiche == | ||
− | Die englische Bezeichnung {{lang|en|''physical therapy''}} ist nicht zu verwechseln mit dem Begriff „[[Physikalische Therapie]]“ im [[Deutsche Sprache|Deutschen]]. Physiotherapie und Physikalische Therapie werden teilweise als Synonyme bzw. gemeinsames Fachgebiet betrachtet; auch wird die Physiotherapie als Unterbereich der Physikalischen Therapie angesehen. Mit Blick auf finanzielle Abrechnungsmodalitäten sollen {{"|Auf Intervention verschiedener Fachgruppen […] die Bereiche Physiotherapie und physikalische Therapie im nächsten Entwurf (der [[Diagnosis Related Groups]]) wieder getrennt [werden], damit auch z. B. eine physiotherapeutische Behandlung und eine Wärmeanwendung einzeln gezählt werden können.}}<ref>aus [http://sl.zvk.org/s/content.php?area=114&sub=339&det=362&step=366&news_id=900&zvk_org=60314f5077d1550aab189e0ba1903a12 Prozedurenklassifikation im DRG-System]</ref> | + | Die englische Bezeichnung {{lang|en|''physical therapy''}} ist nicht zu verwechseln mit dem Begriff „[[Wikipedia:Physikalische Therapie|Physikalische Therapie]]“ im [[Wikipedia:Deutsche Sprache|Deutschen]]. Physiotherapie und Physikalische Therapie werden teilweise als Synonyme bzw. gemeinsames Fachgebiet betrachtet; auch wird die Physiotherapie als Unterbereich der Physikalischen Therapie angesehen. Mit Blick auf finanzielle Abrechnungsmodalitäten sollen {{"|Auf Intervention verschiedener Fachgruppen […] die Bereiche Physiotherapie und physikalische Therapie im nächsten Entwurf (der [[Wikipedia:Diagnosis Related Groups|Diagnosis Related Groups]]) wieder getrennt [werden], damit auch z. B. eine physiotherapeutische Behandlung und eine Wärmeanwendung einzeln gezählt werden können.}}<ref>aus [http://sl.zvk.org/s/content.php?area=114&sub=339&det=362&step=366&news_id=900&zvk_org=60314f5077d1550aab189e0ba1903a12 Prozedurenklassifikation im DRG-System]</ref> |
== Geschichte == | == Geschichte == | ||
=== Altertum bis zur Neuzeit === | === Altertum bis zur Neuzeit === | ||
− | Viele Verfahren der Physiotherapie haben ihren Ursprung weit zurückliegend. Archäologische Funde zeigen, dass [[Thermalquelle|Thermal-]] und [[Mineralquelle]]n bereits in frühgeschichtlicher Zeit genutzt wurden. Verschiedene Formen der [[Massage]] und von medizinischen Bädern kannte man bereits vor ca. 4000 Jahren in China. | + | Viele Verfahren der Physiotherapie haben ihren Ursprung weit zurückliegend. Archäologische Funde zeigen, dass [[Wikipedia:Thermalquelle|Thermal-]] und [[Wikipedia:Mineralquelle|Mineralquelle]]n bereits in frühgeschichtlicher Zeit genutzt wurden. Verschiedene Formen der [[Wikipedia:Massage|Massage]] und von medizinischen Bädern kannte man bereits vor ca. 4000 Jahren in China. |
− | Aus der [[Antike]] sind gezielte gymnastische und diätetische Erziehungsideale überliefert. Die [[Athlet]]en der [[Olympische Spiele der Antike|antiken Olympischen Spiele]] hatten speziell ausgebildete [[Trainer]], die über die so genannte „Körperhygiene“ ihrer Schützlinge wachten. Damit taten sie für die [[Gesundheit]] und [[Vitalität]] der jungen Leute oft mehr als jeder [[Arzt]]. | + | Aus der [[Wikipedia:Antike|Antike]] sind gezielte gymnastische und diätetische Erziehungsideale überliefert. Die [[Wikipedia:Athlet|Athlet]]en der [[Wikipedia:Olympische Spiele der Antike|antiken Olympischen Spiele]] hatten speziell ausgebildete [[Wikipedia:Trainer|Trainer]], die über die so genannte „Körperhygiene“ ihrer Schützlinge wachten. Damit taten sie für die [[Gesundheit]] und [[Wikipedia:Vitalität|Vitalität]] der jungen Leute oft mehr als jeder [[Arzt]]. |
− | Auch der griechische Arzt [[Hippokrates von Kos|Hippokrates]] vertrat verschiedene medizinische Auffassungen, die sich heutzutage in der Physiotherapie wiederfinden. Er verstand den lebendigen Leib als Organismus, [[Gesundheit]] als [[Ausgeglichenheit|Gleichgewicht]] und [[Krankheit]] als gestörten physischen und [[Psychologie|psychischen]] Gesamtzustand. Seine Überzeugung war, dass die [[Natur]] eine Heilkraft besitzt. Hippokrates und sein späteres römisches Pendant [[Galenus|Galen]] hoben die gesundheitliche Wirkung aller „Leibesübungen“ hervor. | + | Auch der griechische Arzt [[Wikipedia:Hippokrates von Kos|Hippokrates]] vertrat verschiedene medizinische Auffassungen, die sich heutzutage in der Physiotherapie wiederfinden. Er verstand den lebendigen Leib als Organismus, [[Gesundheit]] als [[Ausgeglichenheit|Gleichgewicht]] und [[Krankheit]] als gestörten physischen und [[Wikipedia:Psychologie|psychischen]] Gesamtzustand. Seine Überzeugung war, dass die [[Wikipedia:Natur|Natur]] eine Heilkraft besitzt. Hippokrates und sein späteres römisches Pendant [[Wikipedia:Galenus|Galen]] hoben die gesundheitliche Wirkung aller „Leibesübungen“ hervor. |
− | Das uralte [[Yoga]] lässt sich ebenfalls hier einstufen, mit seinen präzisen [[Asana]]s wie als passive [[Massage]]. In China findet sich das [[Qigong]] als Übungsmethode zur Selbstregulation und die [[Tuina]]-Anmo Therapie als manuelle Behandlungsmethode. | + | Das uralte [[Yoga]] lässt sich ebenfalls hier einstufen, mit seinen präzisen [[Wikipedia:Asana|Asana]]s wie als passive [[Wikipedia:Massage|Massage]]. In China findet sich das [[Wikipedia:Qigong|Qigong]] als Übungsmethode zur Selbstregulation und die [[Wikipedia:Tuina|Tuina]]-Anmo Therapie als manuelle Behandlungsmethode. |
− | Schon früh nutzte man die positiven Beobachtungen zur [[Gesundheitsberatung]] der Bevölkerung. Man empfahl regelmäßige [[Körperliche Aktivität|Bewegung]] in Form von [[Spaziergang|Spaziergängen]], [[Schwimmen]], [[Bipedie|Laufen]], [[Reiten]], [[Spiel]]en und [[Tanzen]]. Auch die erholsame und heilende Wirkung von [[Massage]]n und [[Heilbad|Heilbädern]] ist seit der Antike bekannt. Die [[Diätetik]] bezog sich nicht nur auf eine gesunde [[Ernährung]]. Ebenso wurde auf ein ausgewogenes Verhältnis von Wachen und [[Schlaf]]en geachtet. | + | Schon früh nutzte man die positiven Beobachtungen zur [[Gesundheitsberatung]] der Bevölkerung. Man empfahl regelmäßige [[Körperliche Aktivität|Bewegung]] in Form von [[Wikipedia:Spaziergang|Spaziergängen]], [[Wikipedia:Schwimmen|Schwimmen]], [[Wikipedia:Bipedie|Laufen]], [[Wikipedia:Reiten|Reiten]], [[Wikipedia:Spiel|Spiel]]en und [[Wikipedia:Tanzen|Tanzen]]. Auch die erholsame und heilende Wirkung von [[Wikipedia:Massage|Massage]]n und [[Wikipedia:Heilbad|Heilbädern]] ist seit der Antike bekannt. Die [[Wikipedia:Diätetik|Diätetik]] bezog sich nicht nur auf eine gesunde [[Ernährung|Ernährung]]. Ebenso wurde auf ein ausgewogenes Verhältnis von Wachen und [[Wikipedia:Schlaf|Schlaf]]en geachtet. |
− | Bis ins hohe [[Mittelalter]] hinein änderte sich daran wenig, die „Rezepte“ blieben die gleichen. Eher war es so, dass durch den [[Kirche (Organisation)|kirchlichen]] Einfluss der Körper in Vergessenheit geriet; u. a. hätten gottesfürchtige Geschöpfe das [[Leben]] und [[Leidensdruck|Leiden]] als schicksalhaft zu betrachten. Dies änderte sich erst mit der [[Renaissance]], in der die antiken Ideale wieder erwachten. | + | Bis ins hohe [[Wikipedia:Mittelalter|Mittelalter]] hinein änderte sich daran wenig, die „Rezepte“ blieben die gleichen. Eher war es so, dass durch den [[Wikipedia:Kirche (Organisation)|kirchlichen]] Einfluss der Körper in Vergessenheit geriet; u. a. hätten gottesfürchtige Geschöpfe das [[Leben]] und [[Wikipedia:Leidensdruck|Leiden]] als schicksalhaft zu betrachten. Dies änderte sich erst mit der [[Wikipedia:Renaissance|Renaissance]], in der die antiken Ideale wieder erwachten. |
=== Humanismus und Aufklärung === | === Humanismus und Aufklärung === | ||
− | Vom [[Humanismus]] beeinflusst rückten jetzt auch Frauen, Kinder und behinderte Menschen mit ihren besonderen [[Bedürfnis]]sen und [[Erkrankung]]en in den Mittelpunkt medizinischer Betrachtung. Im 18. Jahrhundert begründete der französische Arzt [[Nicolas Andry de Boisregard|Nicolas Andry]] die [[Orthopädie]] (frei: „Erziehung zur aufrechten Haltung“). Er beobachtete systematisch die häufigen Haltungsschwächen und Deformitäten bei Kindern. Er verschrieb spezielle [[Gymnastik|gymnastische Übungen]] zur [[Therapie]] und [[Krankheitsprävention|Prophylaxe]]. Der Schweizer Arzt [[Jean-André Venel (Orthopäde)|Jean-André Venel]] (1740–1791) eröffnete 1780 die erste orthopädische [[Krankenhaus|Klinik]] der Welt in [[Orbe VD|Orbe]]/[[Kanton Waadt]]. | + | Vom [[Wikipedia:Humanismus|Humanismus]] beeinflusst rückten jetzt auch Frauen, Kinder und behinderte Menschen mit ihren besonderen [[Wikipedia:Bedürfnis|Bedürfnis]]sen und [[Wikipedia:Erkrankung|Erkrankung]]en in den Mittelpunkt medizinischer Betrachtung. Im 18. Jahrhundert begründete der französische Arzt [[Wikipedia:Nicolas Andry de Boisregard|Nicolas Andry]] die [[Wikipedia:Orthopädie|Orthopädie]] (frei: „Erziehung zur aufrechten Haltung“). Er beobachtete systematisch die häufigen Haltungsschwächen und Deformitäten bei Kindern. Er verschrieb spezielle [[Wikipedia:Gymnastik|gymnastische Übungen]] zur [[Therapie]] und [[Wikipedia:Krankheitsprävention|Prophylaxe]]. Der Schweizer Arzt [[Jean-André Venel (Orthopäde)|Jean-André Venel]] (1740–1791) eröffnete 1780 die erste orthopädische [[Krankenhaus|Klinik]] der Welt in [[Wikipedia:Orbe VD|Orbe]]/[[Wikipedia:Kanton Waadt|Kanton Waadt]]. |
− | [[Johann Christoph Friedrich Guts Muths]] begründete die [[pädagogische Gymnastik]] in Deutschland und [[Franz Nachtegall]] (1777–1847) 1798 in [[Kopenhagen]] die „Gymnastische Gesellschaft“. Aus deren Leibesübungen entwickelte der Schwede [[Pehr Henrik Ling]] eine gezielte [[therapeutische Gymnastik]], wie heute noch an den „Gebrauchsbewegungen des Alltags“ angelehnt. Er kombinierte seine [[Therapie|Behandlungen]] mit Massagen für spezielle Muskelgruppen.<ref>[[Arnd Krüger]]: ''Geschichte der Bewegungstherapie''. In: ''Präventivmedizin''. Springer Loseblatt Sammlung, Heidelberg 1999, 07.06, 1–22.</ref> | + | [[Wikipedia:Johann Christoph Friedrich Guts Muths|Johann Christoph Friedrich Guts Muths]] begründete die [[pädagogische Gymnastik]] in Deutschland und [[Wikipedia:Franz Nachtegall|Franz Nachtegall]] (1777–1847) 1798 in [[Wikipedia:Kopenhagen|Kopenhagen]] die „Gymnastische Gesellschaft“. Aus deren Leibesübungen entwickelte der Schwede [[Wikipedia:Pehr Henrik Ling|Pehr Henrik Ling]] eine gezielte [[therapeutische Gymnastik]], wie heute noch an den „Gebrauchsbewegungen des Alltags“ angelehnt. Er kombinierte seine [[Therapie|Behandlungen]] mit Massagen für spezielle Muskelgruppen.<ref>[[Wikipedia:Arnd Krüger|Arnd Krüger]]: ''Geschichte der Bewegungstherapie''. In: ''Präventivmedizin''. Springer Loseblatt Sammlung, Heidelberg 1999, 07.06, 1–22.</ref> |
− | Im 18. Jahrhundert fanden erste [[Medikament]]e zwar Anklang, brachten allerdings auch Gefahren mit sich. Mancher [[Arzt]] propagierte die Anwendung von Mineralwässern, [[Heilbad|Heilbädern]] und der [[Hydrotherapie]]. Dies setzte sich im 19. Jahrhundert weiter fort, die Beliebtheit der Hydrotherapie stieg an. | + | Im 18. Jahrhundert fanden erste [[Wikipedia:Medikament|Medikament]]e zwar Anklang, brachten allerdings auch Gefahren mit sich. Mancher [[Arzt]] propagierte die Anwendung von Mineralwässern, [[Wikipedia:Heilbad|Heilbädern]] und der [[Hydrotherapie]]. Dies setzte sich im 19. Jahrhundert weiter fort, die Beliebtheit der Hydrotherapie stieg an. |
Vor allem in Deutschland erlebte die Hydrotherapie einen wahren Boom: Der Urvater der Hydrotherapie, [[Sebastian Kneipp]], entwickelte eine einfache Lebensregelung, kombinierte sie mit der Anwendung pflanzlicher Medikamente und einer Gesundheitserziehung. | Vor allem in Deutschland erlebte die Hydrotherapie einen wahren Boom: Der Urvater der Hydrotherapie, [[Sebastian Kneipp]], entwickelte eine einfache Lebensregelung, kombinierte sie mit der Anwendung pflanzlicher Medikamente und einer Gesundheitserziehung. | ||
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=== Industrialisierung und Moderne === | === Industrialisierung und Moderne === | ||
[[Datei:Bundesarchiv Bild 102-07912, Orthopädische Kindergymnastik.jpg|miniatur|hochkant=1.5|Orthopädische Kindergymnastik, 1929]] | [[Datei:Bundesarchiv Bild 102-07912, Orthopädische Kindergymnastik.jpg|miniatur|hochkant=1.5|Orthopädische Kindergymnastik, 1929]] | ||
− | Der Berliner Arzt [[Albert C. Neumann]] brachte die „schwedische Heilgymnastik“ nach Deutschland. Er definierte als erster den Beruf des „Gymnasten“ und setzte sich für die berufliche [[Emanzipation]] der Frauen ein. 1853 eröffnete er die erste Gymnastenschule für Damen. Der [[Schweden|Schwede]] [[Gustav Zander]] entwickelte ab ca. 1865 ein System von Gymnastik- und Massageapparaten, die [[medico-mechanische Therapie]]. In Deutschland wurden die Geräte u. a. in „[[Gustav Zander|Zander-Instituten]]“ als Trainingsgeräte in Vorsorge und Therapie eingesetzt, später kamen Weiterentwicklungen, Plagiate und einfachere Bewegungsgeräte hinzu. | + | Der Berliner Arzt [[Albert C. Neumann]] brachte die „schwedische Heilgymnastik“ nach Deutschland. Er definierte als erster den Beruf des „Gymnasten“ und setzte sich für die berufliche [[Wikipedia:Emanzipation|Emanzipation]] der Frauen ein. 1853 eröffnete er die erste Gymnastenschule für Damen. Der [[Wikipedia:Schweden|Schwede]] [[Wikipedia:Gustav Zander|Gustav Zander]] entwickelte ab ca. 1865 ein System von Gymnastik- und Massageapparaten, die [[Wikipedia:medico-mechanische Therapie|medico-mechanische Therapie]]. In Deutschland wurden die Geräte u. a. in „[[Wikipedia:Gustav Zander|Zander-Instituten]]“ als Trainingsgeräte in Vorsorge und Therapie eingesetzt, später kamen Weiterentwicklungen, Plagiate und einfachere Bewegungsgeräte hinzu. |
− | Zudem wuchs der Bedarf an Behandlungen durch die Kriege ([[Deutsch-Französischer Krieg|1870/71]], [[Erster Weltkrieg|1914–18]] und [[Zweiter Weltkrieg|1939–45]]) und infolge der steigenden [[Arbeitsunfall|Arbeits-]] und [[Verkehrsunfall|Verkehrsunfälle]]. [[Johann Hermann Lubinus]] gründete die von vielen [[Facharzt|Fachärzten]] angesehenen „Lubinus-Schulen“. Nun machte die Krankengymnastik erstmals verstärkt mit [[Patient]]en aus der [[Chirurgie]] und [[Neurologie]] Bekanntschaft (die [[Kinderlähmung]] nahm weltweit ein hohes Ausmaß an). Für die Behandlung von [[Herz]]- und [[Lunge]]nerkrankungen sowie in der [[Rheumatologie]] fand eine Rückbesinnung zu [[Balneologie|Heilbädern]] und der [[Sebastian Kneipp|Kneipp-Lehre]] statt. Im Jahr 1941 wurde [[Wolfgang Kohlrausch]] zum ersten Ordinarius für [[Bewegungstherapie]] an die nationalsozialistische Reichsuniversität Straßburg berufen. | + | Zudem wuchs der Bedarf an Behandlungen durch die Kriege ([[Wikipedia:Deutsch-Französischer Krieg|1870/71]], [[Wikipedia:Erster Weltkrieg|1914–18]] und [[Wikipedia:Zweiter Weltkrieg|1939–45]]) und infolge der steigenden [[Wikipedia:Arbeitsunfall|Arbeits-]] und [[Wikipedia:Verkehrsunfall|Verkehrsunfälle]]. [[Wikipedia:Johann Hermann Lubinus|Johann Hermann Lubinus]] gründete die von vielen [[Wikipedia:Facharzt|Fachärzten]] angesehenen „Lubinus-Schulen“. Nun machte die Krankengymnastik erstmals verstärkt mit [[Wikipedia:Patient|Patient]]en aus der [[Wikipedia:Chirurgie|Chirurgie]] und [[Neurologie]] Bekanntschaft (die [[Wikipedia:Kinderlähmung|Kinderlähmung]] nahm weltweit ein hohes Ausmaß an). Für die Behandlung von [[Herz]]- und [[Lunge]]nerkrankungen sowie in der [[Wikipedia:Rheumatologie|Rheumatologie]] fand eine Rückbesinnung zu [[Balneologie|Heilbädern]] und der [[Sebastian Kneipp|Kneipp-Lehre]] statt. Im Jahr 1941 wurde [[Wikipedia:Wolfgang Kohlrausch|Wolfgang Kohlrausch]] zum ersten Ordinarius für [[Wikipedia:Bewegungstherapie|Bewegungstherapie]] an die nationalsozialistische Reichsuniversität Straßburg berufen. |
− | Nach der [[Währungsreform 1948 (Westdeutschland)|Währungsreform 1948]] kam es im [[Gesundheitswesen]] zu Sparmaßnahmen, die zu einem deutlichen Stellenabbau führten. Erst mit der Gründung von Landesverbänden konnte sich der Berufsstand wieder besser etablieren und ausbauen. Verträge mit Krankenkassen und eine Vereinheitlichung der Ausbildung machten krankengymnastische Einrichtungen wieder rentabel. In den 1950er Jahren bildete sich der ZVK (Zentralverband der Krankengymnasten), bis heute der größte aller deutschen Verbände. Durch seine Arbeit gelang 1959 eine bundesgesetzliche Abgrenzung des „Krankengymnasten“ zu anderen [[Heilhilfsberuf|ärztlichen Hilfsberufen]]. In der [[Deutsche Demokratische Republik|DDR]] wurde 1964 die Bezeichnung ''Physiotherapie'' aus der Internationalen Nomenklatur übernommen. | + | Nach der [[Wikipedia:Währungsreform 1948 (Westdeutschland)|Währungsreform 1948]] kam es im [[Gesundheitswesen]] zu Sparmaßnahmen, die zu einem deutlichen Stellenabbau führten. Erst mit der Gründung von Landesverbänden konnte sich der Berufsstand wieder besser etablieren und ausbauen. Verträge mit Krankenkassen und eine Vereinheitlichung der Ausbildung machten krankengymnastische Einrichtungen wieder rentabel. In den 1950er Jahren bildete sich der ZVK (Zentralverband der Krankengymnasten), bis heute der größte aller deutschen Verbände. Durch seine Arbeit gelang 1959 eine bundesgesetzliche Abgrenzung des „Krankengymnasten“ zu anderen [[Wikipedia:Heilhilfsberuf|ärztlichen Hilfsberufen]]. In der [[Wikipedia:Deutsche Demokratische Republik|DDR]] wurde 1964 die Bezeichnung ''Physiotherapie'' aus der Internationalen Nomenklatur übernommen. |
− | Im Zuge der [[Deutsche Wiedervereinigung|Wiedervereinigung]] und der Anpassung an den internationalen Sprachgebrauch wurden 1994 die Berufsgesetze (siehe [[MPhG]]) novelliert. Von nun an heißen die Krankengymnasten einheitlich „Physiotherapeuten“. | + | Im Zuge der [[Wikipedia:Deutsche Wiedervereinigung|Wiedervereinigung]] und der Anpassung an den internationalen Sprachgebrauch wurden 1994 die Berufsgesetze (siehe [[Wikipedia:MPhG|MPhG]]) novelliert. Von nun an heißen die Krankengymnasten einheitlich „Physiotherapeuten“. |
== Theoriebildung in Deutschland == | == Theoriebildung in Deutschland == | ||
Seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts hat sich die deutsche Physiotherapie vorwiegend darum bemüht, sich im Gesundheitswesen zu etablieren und zu verankern. Sie hat sich deshalb entlang der [[Medizin]] entwickelt und somit am medizinischen Denkmodell definiert. Grundlegend für das medizinische Modell war zu dieser Zeit das Konzept der „Normalität“, das die Therapie wiederherstellen sollte. Abweichungen galten abnormal. Jede Krankheit hatte demnach einen nachweisbaren Auslöser (beispielsweise einen Keim). Die Medizin behandelte demnach nicht das Individuum, sondern die Krankheit und versuchte sie zu eliminieren. | Seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts hat sich die deutsche Physiotherapie vorwiegend darum bemüht, sich im Gesundheitswesen zu etablieren und zu verankern. Sie hat sich deshalb entlang der [[Medizin]] entwickelt und somit am medizinischen Denkmodell definiert. Grundlegend für das medizinische Modell war zu dieser Zeit das Konzept der „Normalität“, das die Therapie wiederherstellen sollte. Abweichungen galten abnormal. Jede Krankheit hatte demnach einen nachweisbaren Auslöser (beispielsweise einen Keim). Die Medizin behandelte demnach nicht das Individuum, sondern die Krankheit und versuchte sie zu eliminieren. | ||
− | Erst seit Mitte der 1990er Jahre vollzieht sich allmählich ein [[Paradigmenwechsel]]. Die Krankheit wird nicht mehr primär als [[Funktionsstörung]] gesehen, die repariert werden soll, sondern eine [[ganzheitlich]]e Sichtweise steht im Vordergrund. | + | Erst seit Mitte der 1990er Jahre vollzieht sich allmählich ein [[Wikipedia:Paradigmenwechsel|Paradigmenwechsel]]. Die Krankheit wird nicht mehr primär als [[Wikipedia:Funktionsstörung|Funktionsstörung]] gesehen, die repariert werden soll, sondern eine [[Wikipedia:ganzheitlich|ganzheitlich]]e Sichtweise steht im Vordergrund. |
− | Die Theorien der Physiotherapie basieren primär auf [[Anatomie]] und [[Physiologie]] des Menschen bzw. auf [[bewegungswissenschaft]]lichen Grundlagen (z. B. motorisches Training, sensomotorische Aktivierung, Wahrnehmungstraining, Haltungsschulung). Die physikalische Therapie basiert zudem auf den Grundlagen der [[Physik]] (z. B. Elektro-, Ultraschall-, Thermo-, Hydro-, Balneotherapie). | + | Die Theorien der Physiotherapie basieren primär auf [[Anatomie]] und [[Wikipedia:Physiologie|Physiologie]] des Menschen bzw. auf [[Wikipedia:bewegungswissenschaft|bewegungswissenschaft]]lichen Grundlagen (z. B. motorisches Training, sensomotorische Aktivierung, Wahrnehmungstraining, Haltungsschulung). Die physikalische Therapie basiert zudem auf den Grundlagen der [[Wikipedia:Physik|Physik]] (z. B. Elektro-, Ultraschall-, Thermo-, Hydro-, Balneotherapie). |
− | Der Physiotherapie stehen eine Vielzahl von Techniken zur Verfügung, unter anderen [[Propriozeptive Neuromuskuläre Fazilitation|PNF]] (Propriozeptive Neuromuskuläre Fazilitation), [[Manuelle Therapie]] (Mobilisierende Techniken zur Gelenksmobilisation), Weichteiltechniken (Heilmassage, Bindegewebstechniken, [[Osteopathie (Alternativmedizin)|osteopathische Techniken]] zur Faszienmobilisation), Sensomotorische Aktivierung (Semota, Kognitives Training nach Perfetti) und [[Heilgymnastik]] (passive, assistive, aktive oder resistive Techniken). | + | Der Physiotherapie stehen eine Vielzahl von Techniken zur Verfügung, unter anderen [[Wikipedia:Propriozeptive Neuromuskuläre Fazilitation|PNF]] (Propriozeptive Neuromuskuläre Fazilitation), [[Wikipedia:Manuelle Therapie|Manuelle Therapie]] (Mobilisierende Techniken zur Gelenksmobilisation), Weichteiltechniken (Heilmassage, Bindegewebstechniken, [[Wikipedia:Osteopathie (Alternativmedizin)|osteopathische Techniken]] zur Faszienmobilisation), Sensomotorische Aktivierung (Semota, Kognitives Training nach Perfetti) und [[Wikipedia:Heilgymnastik|Heilgymnastik]] (passive, assistive, aktive oder resistive Techniken). |
− | Die grundlegende Ausbildung befähigt jedoch nicht automatisch zur Durchführung dieser Techniken. Wird eine zulassungsbeschränkte Therapieform wie beispielsweise Manuelle Therapie, PNF, Neurophysiologische Techniken o. ä. vom [[Arzt]] an den Physiotherapeuten verordnet, so ist zur Erbringung des Heilmittels (Rezeptposition) der Qualifizierungs-Nachweis des Therapeuten gegenüber der [[Krankenkasse]] notwendig. | + | Die grundlegende Ausbildung befähigt jedoch nicht automatisch zur Durchführung dieser Techniken. Wird eine zulassungsbeschränkte Therapieform wie beispielsweise Manuelle Therapie, PNF, Neurophysiologische Techniken o. ä. vom [[Arzt]] an den Physiotherapeuten verordnet, so ist zur Erbringung des Heilmittels (Rezeptposition) der Qualifizierungs-Nachweis des Therapeuten gegenüber der [[Wikipedia:Krankenkasse|Krankenkasse]] notwendig. |
== Ausbildung == | == Ausbildung == | ||
− | Die Ausbildung erfolgt an staatlichen oder privaten Berufsfachschulen, kann aber auch als Bachelorstudiengang an Hochschulen stattfinden und mit dem [[Bachelor of Science]] abschließen. Das Studium kann in drei verschiedenen Varianten ablaufen: Als ausbildungsintegrierender oder [[duales Studium|dualer Studiengang]], als primärqualifizierendes Studium, oder aber als berufsbegleitendes Studium. | + | Die Ausbildung erfolgt an staatlichen oder privaten Berufsfachschulen, kann aber auch als Bachelorstudiengang an Hochschulen stattfinden und mit dem [[Wikipedia:Bachelor of Science|Bachelor of Science]] abschließen. Das Studium kann in drei verschiedenen Varianten ablaufen: Als ausbildungsintegrierender oder [[Wikipedia:duales Studium|dualer Studiengang]], als primärqualifizierendes Studium, oder aber als berufsbegleitendes Studium. |
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− | * [[Wolfgang Heipertz]]: ''Geschichte der Krankengymnastik''. In: August Rütt (Hrsg.): ''Geschichte der Orthopädie im deutschen Sprachraum''. Enke, Stuttgart 1993, ISBN 3-432-25261-7, S. 87–97. | + | * [[Wikipedia:Wolfgang Heipertz|Wolfgang Heipertz]]: ''Geschichte der Krankengymnastik''. In: August Rütt (Hrsg.): ''Geschichte der Orthopädie im deutschen Sprachraum''. Enke, Stuttgart 1993, ISBN 3-432-25261-7, S. 87–97. |
− | * [[Malte Bühring]]: ''Physiotherapie, Physikalische Therapie.'' In: [[Werner E. Gerabek]], Bernhard D. Haage, [[Gundolf Keil]], Wolfgang Wegner (Hrsg.): ''Enzyklopädie Medizingeschichte.'' Walter de Gruyter, Berlin und New York 2005, ISBN 3-11-015714-4, S. 1159–1161. | + | * [[Wikipedia:Malte Bühring|Malte Bühring]]: ''Physiotherapie, Physikalische Therapie.'' In: [[Werner E. Gerabek]], Bernhard D. Haage, [[Gundolf Keil]], Wolfgang Wegner (Hrsg.): ''Enzyklopädie Medizingeschichte.'' Walter de Gruyter, Berlin und New York 2005, ISBN 3-11-015714-4, S. 1159–1161. |
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Aktuelle Version vom 3. Mai 2022, 09:20 Uhr
Physiotherapie (altgriechisch φύσις phýsis, deutsch ‚Natur‘, ‚Körper’ und θεραπεία therapeía, deutsch ‚Dienen‘, ‚Pflege‘, ‚Heilung‘, somit in etwa ‚das Wiederherstellen der natürlichen Funktion‘), früher auch Krankengymnastik, ist eine Form spezifischen Trainings und der äußerlichen Anwendung von Heilmitteln, mit der vor allem die Bewegungs- und Funktionsfähigkeit des menschlichen Körpers wiederhergestellt, verbessert oder erhalten werden soll.
Die Behandlungen werden von Physiotherapeuten und in Teilbereichen von Masseuren und medizinischen Bademeistern durchgeführt. Physiotherapeut ist in Deutschland kein eigenständiger Heilberuf, sondern gehört zu den Gesundheitsfachberufen (früher Heilhilfsberufe). Die medizinische Notwendigkeit einer Behandlung wird ausschließlich durch Ärzte festgestellt und auf Rezept verordnet, außer bei präventiven Maßnahmen. Sporttherapeuten, -wissenschaftler und -lehrer erfüllen nicht die Zulassungsvoraussetzungen als Physiotherapeut und dürfen physiotherapeutische Heilmittel wie z. B. Krankengymnastik weder erbringen noch abrechnen.
Ziel
Die Physiotherapie orientiert sich bei der Behandlung an den Beschwerden und den Funktions-, Bewegungs- bzw. Aktivitätseinschränkungen des Patienten, die bei der physiotherapeutischen Untersuchung festgestellt werden. Sie nutzt sowohl diagnostische und auf clinical reasoning basierende, wie auch pädagogische und manuelle Kompetenzen des Therapeuten. Gegebenenfalls wird sie ergänzt durch natürliche physikalische Reize (z. B. Wärme, Kälte, Druck, Strahlung, Elektrizität) und fördert die Eigenaktivität (koordinierte Bewegung sowie die bewusste Wahrnehmung) des Patienten. Die Behandlung ist an die anatomischen und physiologischen, motivationalen und kognitiven Gegebenheiten des Patienten angepasst. Dabei zielt die Behandlung einerseits auf natürliche, physiologische Reaktionen des Organismus (z. B. motorisches Lernen, Muskelaufbau und Stoffwechselanregung), andererseits auf ein verbessertes Verständnis der Funktionsweise des Organismus (Dysfunktionen/Ressourcen) und auf eigenverantwortlichen Umgang mit dem eigenen Körper ab. Das Ziel ist die Wiederherstellung, Erhaltung oder Förderung der Gesundheit und dabei sehr häufig die Schmerzfreiheit bzw. -reduktion.
Forschung
Im englischen Sprachraum wird unter anderem die Pathokinesiologie/Kinesiopathologie als kennzeichnende Wissenschaft gesehen, der eine zentrale Rolle für die professionelle Identität der Physiotherapie[1] bzw. ihrer Abgrenzung zu anderen Berufen zukommt, welche sich im Gegensatz zu ihr nicht professionell mit dem menschlichen Bewegungssystem[2] auseinandersetzen. Publikationen forschender Physiotherapeuten werden international in medizinischen bzw. naturwissenschaftlichen Fachzeitschriften publiziert, und sind dabei dem peer-review unterzogen.[3][4][5][6][7][8][9][10]
Konkrete Anwendung finden z. B. die Arbeiten einer US-amerikanischen Forschergruppe bei der Etablierung spezifischer Diagnosekategorien, zum Zweck der ursachenbezogenen und zielgerichteten Therapie von Schmerzsyndromen des menschlichen Bewegungssystems.[11]
Synonyme und verwandte Bereiche
Die englische Bezeichnung physical therapy ist nicht zu verwechseln mit dem Begriff „Physikalische Therapie“ im Deutschen. Physiotherapie und Physikalische Therapie werden teilweise als Synonyme bzw. gemeinsames Fachgebiet betrachtet; auch wird die Physiotherapie als Unterbereich der Physikalischen Therapie angesehen. Mit Blick auf finanzielle Abrechnungsmodalitäten sollen „Auf Intervention verschiedener Fachgruppen […] die Bereiche Physiotherapie und physikalische Therapie im nächsten Entwurf (der Diagnosis Related Groups) wieder getrennt [werden], damit auch z. B. eine physiotherapeutische Behandlung und eine Wärmeanwendung einzeln gezählt werden können.“[12]
Geschichte
Altertum bis zur Neuzeit
Viele Verfahren der Physiotherapie haben ihren Ursprung weit zurückliegend. Archäologische Funde zeigen, dass Thermal- und Mineralquellen bereits in frühgeschichtlicher Zeit genutzt wurden. Verschiedene Formen der Massage und von medizinischen Bädern kannte man bereits vor ca. 4000 Jahren in China.
Aus der Antike sind gezielte gymnastische und diätetische Erziehungsideale überliefert. Die Athleten der antiken Olympischen Spiele hatten speziell ausgebildete Trainer, die über die so genannte „Körperhygiene“ ihrer Schützlinge wachten. Damit taten sie für die Gesundheit und Vitalität der jungen Leute oft mehr als jeder Arzt.
Auch der griechische Arzt Hippokrates vertrat verschiedene medizinische Auffassungen, die sich heutzutage in der Physiotherapie wiederfinden. Er verstand den lebendigen Leib als Organismus, Gesundheit als Gleichgewicht und Krankheit als gestörten physischen und psychischen Gesamtzustand. Seine Überzeugung war, dass die Natur eine Heilkraft besitzt. Hippokrates und sein späteres römisches Pendant Galen hoben die gesundheitliche Wirkung aller „Leibesübungen“ hervor.
Das uralte Yoga lässt sich ebenfalls hier einstufen, mit seinen präzisen Asanas wie als passive Massage. In China findet sich das Qigong als Übungsmethode zur Selbstregulation und die Tuina-Anmo Therapie als manuelle Behandlungsmethode.
Schon früh nutzte man die positiven Beobachtungen zur Gesundheitsberatung der Bevölkerung. Man empfahl regelmäßige Bewegung in Form von Spaziergängen, Schwimmen, Laufen, Reiten, Spielen und Tanzen. Auch die erholsame und heilende Wirkung von Massagen und Heilbädern ist seit der Antike bekannt. Die Diätetik bezog sich nicht nur auf eine gesunde Ernährung. Ebenso wurde auf ein ausgewogenes Verhältnis von Wachen und Schlafen geachtet.
Bis ins hohe Mittelalter hinein änderte sich daran wenig, die „Rezepte“ blieben die gleichen. Eher war es so, dass durch den kirchlichen Einfluss der Körper in Vergessenheit geriet; u. a. hätten gottesfürchtige Geschöpfe das Leben und Leiden als schicksalhaft zu betrachten. Dies änderte sich erst mit der Renaissance, in der die antiken Ideale wieder erwachten.
Humanismus und Aufklärung
Vom Humanismus beeinflusst rückten jetzt auch Frauen, Kinder und behinderte Menschen mit ihren besonderen Bedürfnissen und Erkrankungen in den Mittelpunkt medizinischer Betrachtung. Im 18. Jahrhundert begründete der französische Arzt Nicolas Andry die Orthopädie (frei: „Erziehung zur aufrechten Haltung“). Er beobachtete systematisch die häufigen Haltungsschwächen und Deformitäten bei Kindern. Er verschrieb spezielle gymnastische Übungen zur Therapie und Prophylaxe. Der Schweizer Arzt Jean-André Venel (1740–1791) eröffnete 1780 die erste orthopädische Klinik der Welt in Orbe/Kanton Waadt.
Johann Christoph Friedrich Guts Muths begründete die pädagogische Gymnastik in Deutschland und Franz Nachtegall (1777–1847) 1798 in Kopenhagen die „Gymnastische Gesellschaft“. Aus deren Leibesübungen entwickelte der Schwede Pehr Henrik Ling eine gezielte therapeutische Gymnastik, wie heute noch an den „Gebrauchsbewegungen des Alltags“ angelehnt. Er kombinierte seine Behandlungen mit Massagen für spezielle Muskelgruppen.[13]
Im 18. Jahrhundert fanden erste Medikamente zwar Anklang, brachten allerdings auch Gefahren mit sich. Mancher Arzt propagierte die Anwendung von Mineralwässern, Heilbädern und der Hydrotherapie. Dies setzte sich im 19. Jahrhundert weiter fort, die Beliebtheit der Hydrotherapie stieg an.
Vor allem in Deutschland erlebte die Hydrotherapie einen wahren Boom: Der Urvater der Hydrotherapie, Sebastian Kneipp, entwickelte eine einfache Lebensregelung, kombinierte sie mit der Anwendung pflanzlicher Medikamente und einer Gesundheitserziehung.
Industrialisierung und Moderne
Der Berliner Arzt Albert C. Neumann brachte die „schwedische Heilgymnastik“ nach Deutschland. Er definierte als erster den Beruf des „Gymnasten“ und setzte sich für die berufliche Emanzipation der Frauen ein. 1853 eröffnete er die erste Gymnastenschule für Damen. Der Schwede Gustav Zander entwickelte ab ca. 1865 ein System von Gymnastik- und Massageapparaten, die medico-mechanische Therapie. In Deutschland wurden die Geräte u. a. in „Zander-Instituten“ als Trainingsgeräte in Vorsorge und Therapie eingesetzt, später kamen Weiterentwicklungen, Plagiate und einfachere Bewegungsgeräte hinzu.
Zudem wuchs der Bedarf an Behandlungen durch die Kriege (1870/71, 1914–18 und 1939–45) und infolge der steigenden Arbeits- und Verkehrsunfälle. Johann Hermann Lubinus gründete die von vielen Fachärzten angesehenen „Lubinus-Schulen“. Nun machte die Krankengymnastik erstmals verstärkt mit Patienten aus der Chirurgie und Neurologie Bekanntschaft (die Kinderlähmung nahm weltweit ein hohes Ausmaß an). Für die Behandlung von Herz- und Lungenerkrankungen sowie in der Rheumatologie fand eine Rückbesinnung zu Heilbädern und der Kneipp-Lehre statt. Im Jahr 1941 wurde Wolfgang Kohlrausch zum ersten Ordinarius für Bewegungstherapie an die nationalsozialistische Reichsuniversität Straßburg berufen.
Nach der Währungsreform 1948 kam es im Gesundheitswesen zu Sparmaßnahmen, die zu einem deutlichen Stellenabbau führten. Erst mit der Gründung von Landesverbänden konnte sich der Berufsstand wieder besser etablieren und ausbauen. Verträge mit Krankenkassen und eine Vereinheitlichung der Ausbildung machten krankengymnastische Einrichtungen wieder rentabel. In den 1950er Jahren bildete sich der ZVK (Zentralverband der Krankengymnasten), bis heute der größte aller deutschen Verbände. Durch seine Arbeit gelang 1959 eine bundesgesetzliche Abgrenzung des „Krankengymnasten“ zu anderen ärztlichen Hilfsberufen. In der DDR wurde 1964 die Bezeichnung Physiotherapie aus der Internationalen Nomenklatur übernommen.
Im Zuge der Wiedervereinigung und der Anpassung an den internationalen Sprachgebrauch wurden 1994 die Berufsgesetze (siehe MPhG) novelliert. Von nun an heißen die Krankengymnasten einheitlich „Physiotherapeuten“.
Theoriebildung in Deutschland
Seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts hat sich die deutsche Physiotherapie vorwiegend darum bemüht, sich im Gesundheitswesen zu etablieren und zu verankern. Sie hat sich deshalb entlang der Medizin entwickelt und somit am medizinischen Denkmodell definiert. Grundlegend für das medizinische Modell war zu dieser Zeit das Konzept der „Normalität“, das die Therapie wiederherstellen sollte. Abweichungen galten abnormal. Jede Krankheit hatte demnach einen nachweisbaren Auslöser (beispielsweise einen Keim). Die Medizin behandelte demnach nicht das Individuum, sondern die Krankheit und versuchte sie zu eliminieren.
Erst seit Mitte der 1990er Jahre vollzieht sich allmählich ein Paradigmenwechsel. Die Krankheit wird nicht mehr primär als Funktionsstörung gesehen, die repariert werden soll, sondern eine ganzheitliche Sichtweise steht im Vordergrund.
Die Theorien der Physiotherapie basieren primär auf Anatomie und Physiologie des Menschen bzw. auf bewegungswissenschaftlichen Grundlagen (z. B. motorisches Training, sensomotorische Aktivierung, Wahrnehmungstraining, Haltungsschulung). Die physikalische Therapie basiert zudem auf den Grundlagen der Physik (z. B. Elektro-, Ultraschall-, Thermo-, Hydro-, Balneotherapie).
Der Physiotherapie stehen eine Vielzahl von Techniken zur Verfügung, unter anderen PNF (Propriozeptive Neuromuskuläre Fazilitation), Manuelle Therapie (Mobilisierende Techniken zur Gelenksmobilisation), Weichteiltechniken (Heilmassage, Bindegewebstechniken, osteopathische Techniken zur Faszienmobilisation), Sensomotorische Aktivierung (Semota, Kognitives Training nach Perfetti) und Heilgymnastik (passive, assistive, aktive oder resistive Techniken).
Die grundlegende Ausbildung befähigt jedoch nicht automatisch zur Durchführung dieser Techniken. Wird eine zulassungsbeschränkte Therapieform wie beispielsweise Manuelle Therapie, PNF, Neurophysiologische Techniken o. ä. vom Arzt an den Physiotherapeuten verordnet, so ist zur Erbringung des Heilmittels (Rezeptposition) der Qualifizierungs-Nachweis des Therapeuten gegenüber der Krankenkasse notwendig.
Ausbildung
Die Ausbildung erfolgt an staatlichen oder privaten Berufsfachschulen, kann aber auch als Bachelorstudiengang an Hochschulen stattfinden und mit dem Bachelor of Science abschließen. Das Studium kann in drei verschiedenen Varianten ablaufen: Als ausbildungsintegrierender oder dualer Studiengang, als primärqualifizierendes Studium, oder aber als berufsbegleitendes Studium.
Siehe auch
- Physiotherapie - Artikel in der deutschen Wikipedia
- Tierphysiotherapie - Artikel in der deutschen Wikipedia
Literatur
- Wolfgang Heipertz: Geschichte der Krankengymnastik. In: August Rütt (Hrsg.): Geschichte der Orthopädie im deutschen Sprachraum. Enke, Stuttgart 1993, ISBN 3-432-25261-7, S. 87–97.
- Malte Bühring: Physiotherapie, Physikalische Therapie. In: Werner E. Gerabek, Bernhard D. Haage, Gundolf Keil, Wolfgang Wegner (Hrsg.): Enzyklopädie Medizingeschichte. Walter de Gruyter, Berlin und New York 2005, ISBN 3-11-015714-4, S. 1159–1161.
Weblinks
Einzelnachweise
- ↑ Jules M Rothstein: Pathokinesiology – A Name for Our Times? (Seite nicht mehr abrufbar, Suche in Webarchiven) Info: Der Link wurde automatisch als defekt markiert. Bitte prüfe den Link gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis. (PDF) In: Phys Ther., 1986;, 66, S. 364–365.
- ↑ SA. Sahrmann: The human movement system: our professional identity. In: Phys Ther., 2014 Jul, 94(7), S. 1034–1042, PMID 24627430, doi:10.2522/ptj.20130319.
- ↑ SA. Sahrmann, BJ. Norton: The relationship of voluntary movement to spasticity in the upper motor neuron syndrome. In: Trans Am Neurol Assoc., 1977, 102, S. 108–112, PMID 616084.
- ↑ A. Leduc, P. Lievens: Experimental evidence for motoric rehabilitation in lymphoedema (author’s transl). In: Acta Chir Belg., 1979 May-Jun, 78(3), S. 189–193, PMID 474032 [Article in Dutch]
- ↑ N Guissard, J Duchateau, K. Hainaut: Muscle stretching and motoneuron excitability. In: Eur J Appl Physiol Occup Physiol., 1988, 58(1-2), S. 47–52, PMID 3203674.
- ↑ GJ Graham, DS. Butler: Whiplash in Australia: illness or injury? In: Med J Aust., 1992 Sep 21, 157(6), S. 429, PMID 1448009.
- ↑ P Bourgeois, O Leduc, A. Leduc: Imaging techniques in the management and prevention of posttherapeutic upper limb edemas. In: Cancer, 1998 Dec 15, 83 (12 Suppl American), S. 2805–2813, PMID 9874402.
- ↑ G Cheron, A Bengoetxea, B Dan, JP. Draye: Multi-joint coordination strategies for straightening up movement in humans. In: Neurosci Lett., 1998 Feb 20, 242(3), S. 135–138, PMID 9530924.
- ↑ P Segers, JP Belgrado, A Leduc, O Leduc, P. Verdonck: Excessive pressure in multichambered cuffs used for sequential compression therapy. In: Phys Ther., 2002 Oct, 82(10), S. 1000–1008, PMID 12350214.
- ↑ GL Moseley, H. Flor: Targeting cortical representations in the treatment of chronic pain: a review. In: Neurorehabil Neural Repair., 2012 Jul-Aug, 26(6), S. 646–652, PMID 22331213, doi:10.1177/1545968311433209.
- ↑ M Harris-Hayes, SA Sahrmann, BJ Norton, GB. Salsich: Diagnosis and management of a patient with knee pain using the movement system impairment classification system. In: J Orthop Sports Phys Ther., 2008 Apr, 38(4), S. 203–213, PMID 18434664, doi:10.2519/jospt.2008.2584.
- ↑ aus Prozedurenklassifikation im DRG-System
- ↑ Arnd Krüger: Geschichte der Bewegungstherapie. In: Präventivmedizin. Springer Loseblatt Sammlung, Heidelberg 1999, 07.06, 1–22.